Für manch einen ist es ein Sportgerät, eine Hightech-Maschine zur Erzeugung von Endorphinräuschen, für andere allenfalls ein Spielzeug, ein minderwertiger, notdürftiger Ersatz fürs Auto, allenfalls noch für Kinder, Hausfrauen und arme Schlucker akzeptabel... und dann gibt es noch Menschen, für die Fahrradfahren ein Lebensstil, ja, geradezu eine Weltanschauung ist - zu letzteren gehöre ich.
Ich erledige so ziemlich alle Alltagswege mit dem Fahrrad, es muss schon ein Orkan toben, die Stadt nach Eisregen unbegehbar sein oder in Jahrtausendhochwasser ertrinken, um mich zum Umsteigen auf irgendein anderes Verkehrsmittel zu bewegen. Von Heimorgeln oder Waschmaschinen abgesehen bewältige ich auch die meisten anfallenden Lastentransporte mit dem Rad, obwohl ich bislang keinen Anhänger besitze. Dutzende komplette Computeranlagen habe ich mir auf diese Weise schon erfolgreich nach Hause geholt.
Seit meinem 18. Lebensjahr weigere ich mich standhaft, Fahrunterricht für welche Art von Kraftfahrzeug auch immer zu nehmen, einen Führerschein zu erwerben oder mir gar eine eigene Benzinschleuder ans Bein zu binden. Abgesehen vom finanziellen Aufwand tue ich dies vor allem aus ökologischen Gründen: wenige Aktivitäten der modernen Zivilisation tragen so stark zur Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen bei wie der motorisierte Individualverkehr. Landschaften verschwinden unter Beton und Asphalt, die Stickoxide aus den Auspuffgasen lassen den Regen versauern und die Wälder sterben, die Verbrennung fossiler Brennstoffe in Otto- und Dieselmotoren bläst Abermillionen Tonnen zusätzliches Kohlendioxid in die Atmosphäre und trägt damit zum Treibhauseffekt bei.
Mir ist klar, dass vor dem Hintergrund unserer gegenwärtigen Organisation des Wohnens und Arbeitens nicht jeder auf ein Auto verzichten kann, Pendler in ländlichen Gegenden wissen ein Lied davon zu singen - aber die »Entmischung« von Wohn- und Arbeitsorten mit langen Wegstrecken dazwischen hat sich in den letzten 50 Jahren nur entwickeln können, weil immer mehr Menschen Autos zur Verfügung standen! Und selbst wenn ein Auto vorhanden ist, spricht für körperlich Gesunde nichts dagegen, Wege bis zu 10 km mit dem Fahrrad zurückzulegen... ich selbst bin zugegebenermaßen in der glücklichen Situation, in einer - wenn auch nicht überall fahrradfreundlichen - Millionenstadt und nie weiter als eine Fahrradstunde von meinen Ausbildungs- und Arbeitsorten entfernt zu wohnen.
Aber Fahrradfahren ist für mich mehr als nur eine preiswerte und umweltfreundliche Art, auf kurzen Strecken von A nach B zu kommen. Das Fahrrad ist für mich das ideale Reisefahrzeug - um ein Mehrfaches schneller als die eigenen Füße und doch noch langsam genug, um dem Reisenden ein realistisches Gefühl für Entfernungen zu vermitteln. Moderne motorisierte Verkehrsmittel, vom Auto über den Hochgeschwindigkeitszug bis zum Flugzeug, berauben ihre Insassen jeder Chance, auf einer weiten Reise den allmählichen Übergang von Landschaften, Klimazonen und Kulturkreisen wahrzunehmen, den geographischen Kontext, in dem man sich bewegt, sinnlich zu erfahren. Sie banalisieren die Ferne, machen sie zum jederzeit abrufbaren Konsumgut.
Morgens im nebligen Köln-Wahn in die Charter-Boeing zu steigen und nach ganzen zwei Stunden und zwanzig Minuten im gleißenden Licht des tunesischen Sahel den Fuß auf afrikanischen Boden zu setzen, das grenzt an Surrealismus...
Der Radreisende hingegen ist durch nichts von den Gegebenheiten der von ihm bereisten Natur- und Kulturräume getrennt - keine Fahrgastzelle, kein Eisenbahnabteil separiert ihn von Wind und Wetter, Sonne und Regen, Hitze und Kälte, und auch das menschliche Leben entlang der Fahrtstrecke erschließt sich ihm viel unmittelbarer. Auf dem Fahrrad ergeben sich flüchtige oder auch intensive Begegnungen mit Menschen am Wegesrand fast von selbst, das Anhalten und Absteigen ist nur eine Sache von Sekunden.
Natürlich dauert eine Reise über interkontinentale Distanzen mit dem Fahrrad mindestens einige Monate, wenn nicht Jahre. Aber dafür ist sie auch kein hektisch konsumiertes Statussymbol, das zwecks Vergewisserung des eigenen materiellen Erfolges jährlich wiederholt werden muss, es reicht, eine solche Reise einmal im Leben unternommen zu haben.
Das große Ziel meines Fahrrad-Fernwehs ist seit vielen Jahren Afghanistan - nicht nur wegen der widrigen politischen Verhältnisse seit den späten 1970er Jahren ein ungewöhnliches Ziel für Fernradler, selbst in der großen Zeit des »Hippie-Trails« nach Indien, also zwischen 1965 und 1975, konnte man diejenigen Westler, die Afghanistan mit dem Fahrrad erreicht hatten, an zwei Händen abzählen (mir selbst sind auch nur zwei Fälle bekannt, ein Holländer, der in einer frühen GEO-Ausgabe (1977?) über seine Weltreise berichtete, und Heinz Stücke, der seit 1963 (!) nonstop auf Tour ist, damit höchstwahrscheinlich den Langzeit-Weltrekord hält und 1976 auch durch Afghanistan gekommen ist).
Der Gedanke an eine Fahrradtour nach Afghanistan kam mir erstmal 1983, mit gerade einmal 14 Jahren und mitten während der sowjetischen Besetzung des Landes... angespornt durch erste lange Tagestouren im Frühling und Sommer jenes Jahres stellte ich mir naiverweise vor, konstant einen Schnitt von 150 km/Tag halten und die rund 7500 km von Köln nach Kabul in sechs Wochen bewältigen zu können... da damals im Kreml noch graue Politmumien vom Schlage eines Andropow und Tschernenko regierten, rechnete ich auch für die beabsichtigte Reisezeit (Sommer 1989) noch nicht mit der Bereisbarkeit des Ostblocks per Fahrrad.
Folglich entsprach die Route, die ich mir damals mit heißem Kopf über Atlanten gebeugt zusammenträumte, im Großen und Ganzen der klassischen Hippiestrecke Richtung Indien: Köln - Passau - Linz - Klagenfurt - Zagreb - Belgrad - Skopje - Thessaloniki - Istanbul - Ankara - Erzurum - Tabriz - Teheran - Ghom - Isfahan, dann durch die Wüste Dasht-e Lut (!) nach Mashhad, schließlich über Herat und Kandahar nach Kabul.
Die Jahre vergingen, und während einige Monate nach meinem Abitur die Weltordnung des Kalten Krieges aus den Fugen zu geraten begann, wendete sich am Hindukusch rein gar nichts zum Besseren - die Besatzer gingen, der Krieg blieb. An »rauf auf den Chinazischer und ab nach Afghanistan« war nicht im Entferntesten zu denken. Auch sonst sah es mit meinen Fortschritten als Radreisender nicht gerade berauschend aus - meine Tour nach Amsterdam im August 1986 endete mangels Reparatur-Kenntnissen in einem Fiasko, ansonsten bezeichnete Gummersbach die äußerste Ostgrenze der für mich bereisbaren Welt.
Die Mujahedin eroberten Kabul und bombten es in endlosen Bruderkämpfen in Schutt und Asche, die Taliban traten auf den Plan und errichteten ihr Alptraum-Regime... und meine sämtlichen Pläne von sonstigen Fahrradreisen, soweit sie über harmlose Tagesausflüge hinausgingen, scheiterten regelmäßig schon im Ansatz an Geldmangel und schlechtem Wetter, ich kam nicht nach Budapest, nicht nach Cambridge, nicht nach Umbrien, nicht zum Gardasee, selbst auf einer zweiten Amsterdam-Tour stieg ich nach 30 km frustriert in den Zug um... da blieb mir wieder nur das Träumen über den Landkarten.
Während der 90er Jahre entwickelte ich mich auch dank des Internets in einem vorher nicht gekannten Ausmaß zum Computerfreak, fortan mußten alle Aktivitäten jenseits meiner Matratzengruft mit den Verlockungen des Cyberspace konkurrieren - und gegenüber PoV-Ray und C++, Usenet und Multi User Dungeons zog das Fahrrad zusehends den Kürzeren. Mittlerweile muss ich mich regelrecht vom Computer losreißen, um es überhaupt in den Fahrradkeller zu schaffen...
...aber das Fernweh bleibt, und zwei-, drei-, viermal im Jahr (meistens zwischen April und Oktober) kann ich mich tatsächlich zu Touren durchringen, die ich dann nach Möglichkeit in Texten, Bildern und Karten festhalte und in Zukunft auch hier dokumentiere. Bislang reicht es nur zu Tagestouren, ich hoffe aber, diese in Zukunft Schritt für Schritt ausdehnen zu können.
Ob ich irgendwann einmal nach Afghanistan fahren werde? Ich denke schon, aber ob ich dies mit dem Fahrrad tun werde, steht völlig in den Sternen...
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