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Liquidationsdefensive schrieb am 22.10. 2002 um 18:35:17 Uhr über

Ernst

Wenn einem gesagt wird, es mangele einem doch oftmals am nötigen Ernst, und man ob einer solchen Behauptung tagelang ganz nachdenklich wird und man sich sehr wundert, muss daran doch etwas äußerst Richtiges sein, das man aber gar noch nicht wahrgenommen hat, andernfalls würde man sich ja nicht so sehr wundern. An der Richtigkeit darf man ja gar nicht zweifeln, weil ein anderer über den Schein spricht, also die Erscheinung, mit der man durch das Leben wankt, und man ja nicht den Schein, den ein anderer wahrnimmt, in Frage stellen kann. Die Verwunderung muss also daher rühren, wie es denn sein kann, dass Schein und Sein so auseinanderklaffen, wie etwas erscheinen könne, was nicht ist, wie denn einer so unernst erscheinen kann, der von sich selbst meint, ernst zu sein, weil von nagender Ratlosigkeit innerlich schon ganz zerbröselt. Dann kommt man darauf, dass das vermeintliche Sein vielleicht auch nur ein Schein ist, freut sich kurz sehr und ist erleichtert, stellt aber schnell fest, dass dieser Schein ebenso richtig ist wie der andere, die Verkehrung von Sein in Schein also nur ein belangloser Hieb der Erkenntnis ist, die zur Selbsterhaltung das ungeliebte Wahre ganz schnell in das rettende Falsche verwandeln will. Nachdem der Konflikt von Sein und Schein so zerschlagen ist, hat man es also nun mit einem Konflikt zweier verschiedener Erscheinungen zu tun, der um nichts weniger problematisch und verwunderlich ist als der erste, hat man doch jetzt die Frage vor sich, wie denn der Übergang der einen Erscheinung in die andere möglich ist, also die Umwandlung von der Selbstwahrnehmung in die geradezu kontradiktorische Fremdwahrnehmung, insbesondere zumal und ganz entscheidend weil eine gewollte Verstellung und planmäßiges Schauspielertum als Ursache auszuschließen ist. So kann man auf die Idee kommen, es müsse sich bei diesem Übergang wieder um eine Funktion der Selbsterhaltung handeln, die fordert, eine Bestätigung der einen nicht so recht und dauerhaft lebensfähigen Erscheinung durch Duplizierung zu vermeiden und unbedingt besser an einer Spaltung als an Identität zu arbeiten. Als Beförderung von Komplexität, was ja ein wichtiges Kennzeichen von Leben ist, begrüßt man diesen Vorgang vielleicht leichtsinnigerweise. Die langfristigen Folgen liegen aber im Dunkeln, und zwar einem durchaus beängstigenden Dunkel.


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