Das heißt, jeder einzelne soll die »Muskel-Entfremdung« spüren, der er unterworfen ist. Wir vergleichen z. B. die Muskelstrukturen eines Büroangestellten mit denen eines Bergmanns. Der erste übt eine einseitige Tätigkeit aus - nur seine Arme und Finger sind in Bewegung, vom Nabel abwärts ist sein Körper bei der Arbeit starr und zusammengekrümmt. Beide Körper erleben die Entfremdung entsprechend der jeweils verrichteten Arbeit. Das widerfährt jedem in ' jeder Funktion und jedem sozialen Status.
Ziel der Übungen dieser ersten Phase ist es, die Muskelstrukturen der Teilnehmer wahrzunehmen, sie »auseinander zu nehmen«, sie zu untersuchen, damit sie sich ihrer bewußt werden, damit jeder Arbeiter und Bauer begreift, sieht und spürt, wie sehr sein Körper von seiner Arbeit beherrscht wird. Wer fähig ist, seine eigenen Muskelstrukturen »ZU erfahren«, kann sich körperlich auch in Leute mit anderen Berufen oder einem anderen sozialen Status versetzen.
Es geht in dieser ersten Phase nicht um akrobatische oder athletische Übungen. Hier einige dieser Übungen:
Wettlauf im Zeitlu entempo, der Letzte gewinnt. Bei dieser Balance- und Bewegungsübung geht es darum, das Schwerkraftzentrum Zentimenter um Zentimeter zu verlagern und das Gleichgewicht immer neu zu finden. Die Teilnehmer dürfen die Bewegung nicht unterbrechen und stehenbleiben; sie sollen möglichst große Schritte machen und die Füße über Kniehöhe anheben. Ein Wettlauf dieser Art über eine Strecke von zehn Metern kann anstrengender sein als ein 5co-Meter-Lauf.
Wettlauf mit verschränkten Beinen. Die Teilnehmer bilden Paare. Sie legen einander den Arm um die Hüfte, das linke Bein des einen verschränkt sich mit dem rechten Bein des andern, wobei jeder auf dem freien Bein steht. Beim Wettlauf bewegt sich das Paar wie eine Person, jeder einzelne, als sei der Partner sein Bein.
Radrennen. Die Teilnehmer fassen sich paarweise an den Knöcheln und rollen als menschliche Räder um die Wette.
Manipulationsspiel. Die Teilnehmer stehen einander gegenüber.
Der eine hält dem andern seine Hand wenige Zentimeter vor die Nase und bewegt sie in alle Richtungen, nach oben, nach unten, nach links, nach rechts, schneller oder langsamer, während der andere seinen ganzen Körper bewegt, um mit seiner Nase den Abstand zur Hand des Partners zu halten. Beide sind dabei
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gezwungen, völlig ungewohnte Stellungen einzunehmen. Sodann werden Dreiergruppen gebildet. Einer führt an, die anderen beiden folgen jeweils in gleichem Abstand seinen Händen. Der Anführer kann machen, was immer ihm einfällt: Arme verschränken, Arme ausbreiten usw. Wenn seine Hand nach oben weist, muß der Partner das Gesicht nach oben wenden usw. Beim Manipulationsspiel mit Händen und Füßen bilden die Teilnehmer Fünfergruppen, wobei vier den Händen und Füßen des Anführers folgen, der wiederum machen kann, was ihm einfällt, sogar tanzen. Be' diesen Übungen muß der Anführer ständig versuchen, die Partner aus dem Gleichgewicht zu bringen, und sie zwingen, in immer neuen Stellungen wieder die Balance zu gewinnen. je lächerlicher, desto besser, desto mehr tragen diese Übungen dazu bei, automatisierte Bewegungsabläufe »auseinander zu nehmen«.
Boxen auf Entfernung. Die Teilnehmer boxen, ohne einander zu berühren. jeder Schlag muß »sitzen«, und der »Getroffene« muß die entsprechenden Reaktionen zeigen.
Wilder Westen. Eine Variation der vorangegangenen Übung. Die Teilnehmer improvisieren eine typische Szene aus einer traditionellen Wild-West-Komödie: den betrunkenen KlavierSpieler, den hektischen Kellner, die Bardamen, die Revolverhelden, die die Schwingtür des Saloons mit einem Fußtritt aufstoßen usw. Während des ganzen stummen Spiels dürfen die Teilnehmer einander nicht berühren, müssen aber auf alle Gesten, Bewegungen und Abläufe reagieren. Wenn beispielsweise ein imaginärer Stuhl in die Flaschen hinter der Theke geschleudert wird, ist auf den fliegenden Stuhl, das Zerspittern der Flaschen usw. zu reagieren. Zum Schluß kämpft jeder gegen jeden.
Wichtig ist, daß die Arbeit mit Gruppen in einer schöpferischen Atmosphäre verläuft. Alle sind gleichermaßen beteiligt, die Lehrenden wie die Lernenden, alle sollen Einfälle entwickeln, eigene Ideen artikulieren, neue Übungen erf'nden, die jeden einzelnen Teilnehmer seinen Körper erfahren lassen.
II. Seinen Körper ausdrucksfähig machen
Wir sind durch unsere ganze Erziehung fast ausschließlich auf
verbale Kommunikation beschränkt, was zur Folge hat, daß
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