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Elite

Sarrazin und Sloterdijk
Reinhard Jellen 08.09.2010

Interview mit Michael Wendl über die Renaissance von KlebeElite-Ideologien in der deutschen Gesellschaft
Unter den Menschen gibt es sowohl unterschiedliche genetische Kombinationen als auch soziale Unterschiede. Wie diese genau zusammenhängen, ist Gegenstand wilder Debatten. In jüngster Zeit machten zu diesem Thema vor allem Thilo Sarrazin und Peter Sloterdijk auf sich aufmerksam. Der Gewerkschaftsfunktionär Michael Wendl sieht Ähnlichkeiten zwischen ihnen.



Herr Wendl, Sie bringen den Streit, der seit der Veröffentlichung des Buches von Thilo Sarrazin mit großer Heftigkeit ausgebrochen ist, mit der Diskussion über die Schriften von Peter Sloterdijk in Verbindung. Welche Gemeinsamkeiten entdecken Sie bei Sloterdijk und Sarrazin?

Michael Wendl: Die Gemeinsamkeit liegt im Führungsanspruch der vermeintlich gebildeten Eliten und in der kulturellen Verachtung, die den »Unterschichten« entgegengebracht wird. Beide vertreten eine elitäre Theorie: Sarrazin in einer eher vereinfachten und primitiv begründeten Weise, indem er der These von der Vererbung der Intelligenz anhängt und in seinem Buch mehrfach folgert, dass die politische Führung von der Oberschicht ausgehen müsse. Die These von der Vererbbarkeit der Intelligenz gab es übrigens bereits in der »social underclass«- Debatte der 1980/1990er Jahre über die Slums und Ghettos in US-amerikanischen Großstädten, mit der die Autoren Richard Herrnstein und Charles Murray in ihrem Buch »The Bell Curve« seinerzeit die wachsende Konzentration der amerikanischen Unterschichten auf Afroamerikaner und Hispanoamerikaner begründen wollten. Sloterdijk argumentiert hingegen philosophisch, mit Rückgriff auf Nietzsche.

Während Thilo Sarrazin Wogen der Empörung entgegenbranden, ist Peter Sloterdijk mit seinen Gedanken zu gentechnischer Selektion, Menschenzüchtung und sozialer Aussonderung in den Medien en vogue. Er darf im ZDF sogar eine Fernsehsendung moderieren. Können Sie uns das erklären?

Michael Wendl: Sarrazin hat in der Ausdrucksweise überzogen: Seine Kritik ist zu direkt überheblich, zu »vulgär«. Und: Sarrazin ist Politiker, die gelten in der Öffentlichkeit nicht viel. Sloterdijk hat sich einen Ruf als »Philosoph« verschaffen können. Er wird in der Öffentlichkeit nicht verstanden. Der Streit über Sloterdijk wurde in Cicero, FAZ und ZEIT, im Wirtschaftsteil der SZ ausgetragen, der Streit über Sarrazin in BILD und SPIEGEL, also in der politischen Boulevardpresse.

Sind die Thesen von Sarrazin und Sloterdijk grundsätzlich abwegig - oder steckt dahinter auch ein rationaler Kern ?

Michael Wendl: Bei Sarrazin ist politisch rational, dass seine Streitschrift völlig unbeabsichtigt das Scheitern der rot-grünen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik demonstriert. Die Konzentration auf den Arbeitsmarkt als entscheidende Ebene für Beschäftigung führt zur Bildung von ethnisch und religiös segmentierten Ghettos. Bei Sloterdijk ist nichts rational: Er repräsentiert eine auf Nietzsche zurückgehende undemokratische Elite-Ideologie. Vielleicht drückt er damit Sehnsüchte eines sich durch die Finanzkrise angegriffenen fühlenden Besitzbürgertums aus.

Mir geht es aber in der Sloterdijk-Diskussion um etwas anderes: Sloterdijk vertritt ja bekanntlich die These, dass die obersten zehn Prozent der Einkommensbezieher mehr als fünfzig Prozent des Steueraufkommens zahlen würden und ich habe erstens versucht, nachzuweisen, dass z.B. die Einkommenssteuer gerade mal dreißig Prozent des gesamten Steueraufkommens ausmacht. Andere wesentliche Posten sind hier die Mehrwertssteuer und alle möglichen Arten von Konsumsteuern, sowie ein geringerer Anteil Unternehmenssteuern. Überdies basieren zweitens die Zahlenangaben, auf die Sloterdijk sich bezieht, auf dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2008, wobei sich dort die Annahmen über die Verteilung des Steueraufkommens auf eine Modellstudie des rheinisch-westfälischen Wirtschaftsforschungsinstituts stützen, die hypothetischen Charakter hat. Schließlich durfte das reale Steueraufkommen aufgrund des Steuergeheimnisses nicht herangezogen werden.

»Sarrazin greift Aufstiegshoffnungen der unteren Gesellschaftsschichten offen an«

Die effektive Steuerbelastung ist aber niedriger als die nominale. Nominal muss ein verheirateter Einkommensbezieher von mehr als 130.000 Euro zweiundvierzig Prozent Steuern zahlen: Alles was diesen Betrag übersteigt, wird zweiundvierzigprozentig plus Solidarbeitrag versteuert. Ob man diese zweiundvierzig Prozent aber tatsächlich zahlt, steht auf einem ganz anderen Blatt, da verschiedentliche Steuervergünstigungen existieren. Alle Formen einer legalen Steuerverkürzung weichen also von dem nominalen Steuersatz ab und schließlich gibt es für Wohlhabende auch noch Finten und Schliche, um ihr Geld auf nicht legale Weise am Fiskus vorbeizuschleusen. Aus meiner Sicht sind also die Angaben von Sloterdijk empirisch überhaupt nicht belegbar. Meine Rolle war hier die des empirisch argumentierenden Ökonomen, der die von Sloterdijk behaupteten Verteilungsverhältnisse ein Stück zurecht rückt. Ich habe mich aber weniger mit den Denkformen von Sloterdijk auseinandergesetzt.

Michel Friedmann äußerte unlängst in einer Fernsehsendung, dass Sarrazin »die republikanische Tradition« aufkündige, der zufolge jeder alles erreichen kann - aber belegt nicht die Empirie, dass hier Michel Friedmann falsch und Thilo Sarrazin richtig liegt?

Michael Wendl: Sicher liegt Friedmann empirisch falsch: »pursuit of happiness« ist auch eine Verheißung und gerade keine Realität. Aber die Kritik an Sarrazin basiert auch darauf, dass er die demokratischen, auf der Vorstellung von Gleichheit entstandenen Aufstiegshoffnungen der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten offen angreift. Zu sagen, Intelligenz ist erblich, heißt auch: Ihr habt keine Chance, vergesst eure Hoffnungen auf sozialen Aufstieg.

Wie hoch schätzen Sie die Relevanz von Sarrazins Buch für die deutsche Öffentlichkeit?

Michael Wendl: Ich finde die Diskussion der Thesen von Sarrazin sehr wichtig, weil er auch manches sagt, was nachdenkenswert ist. Problematisch an dem gesamten Text ist seine dogmatische Einbindung in die Gedankenwelt der neoklassischen Wirtschaftstheorie, welche grundsätzlich davon ausgeht, dass nicht die Arbeit, sondern die Nachfrage Werte schafft. Nach dieser entscheidet vor allem die Lohnhöhe über die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Nach diesem Modell erhöhen sinkende Löhne die Beschäftigungsquote, weil bei sinkenden Arbeitskosten die Nachfrage nach Arbeitskräften steigen muss. Genau so argumentiert nun Sarrazin: Wenn man den Mindestlohn senkt, werden die Leute gezwungen, zu niedrigerem Lohn Arbeit anzunehmen. Der grundlegende Fehler dabei ist, dass in Wirklichkeit die Beschäftigung durch die Finanzierung der Unternehmen über Kredite und die damit steigenden Investitionen entsteht - und nicht durch sinkende Löhne auf dem Arbeitsmarkt.

»Das Buch ist eine unbeabsichtigte Kritik an Hartz IV«

So hatten die rot-grünen Arbeitsmarktreformen zur Folge, dass durch den dadurch ausgelösten Lohndruck die Nachfrage insgesamt unter Druck geriet und damit das Wirtschaftswachstum im internationalen Vergleich zwischen 2003 und 2007 ebenfalls eher niedrig war. Dadurch blieb die Arbeitslosigkeit hoch und insbesondere verfestigte sich die Langzeitarbeitslosigkeit.

Wenn man 4 Millionen Arbeitslose hat, aber nur eine Million offene Stellen, können drei Millionen machen, was sie wollen. Sie bekommen keine Beschäftigung. Sarrazin beschreibt das ganz treffend, dass sich z.B. niedrigqualifizierte Leute mit schlechten Sprachkenntnissen in diesem System einrichten müssen. So gesehen ist das Buch eine unbeabsichtigte massive Kritik an Hartz IV, denn es zeigt klar auf, zu was dieses Blutbad auf dem Arbeitsmarkt geführt hat. Ich würde heute einen Text zu Sarrazin mit der Überschrift aufmachen: »SPD schließt Hartz IV-Kritiker ausDas ist das Tragische, dass Sarrazin nicht merkt, dass sein Text eine massive Kritik der Folgen der rot-grünen Arbeitsmarktpolitik 2003 bis 2006 darstellt.

Halten Sie es für möglich, dass das statistische Material über Integrationsschwierigkeiten bei Muslimen richtig, aber Sarrazins Erklärung dafür falsch ist?

Michael Wendl: Die besonderen Integrationsschwierigkeiten, die es bei muslimischen Migranten gibt, sind statistisch korrekt abgebildet. Ich glaube, dass rigide moralische Regeln oder religiöser Fundamentalismus die Integration erschweren. Wir sehen das an den heftigen Konflikten, die es zwischen sich assimilierenden Musliminnen, also insbesondere Frauen aus dem türkischen oder arabischen Milieu einerseits und den konservativen Strömungen, überwiegend Männern aus dem selben Milieu, gibt.

Was die Söhne anatolischer Kleinbauern mit den CSU-Wählern der 1970er Jahre gemeinsam haben

Es findet neben der ökonomischen Umwälzung aus der kleinbäuerlichen Welt in moderne Lohnarbeitsverhältnisse noch eine soziale und kulturell-ideologische Umwälzung statt, die zeitverzögert verläuft. Mit dem Marxschen Basis-Überbau-Theorem gesprochen: Die ökonomische Basis verändert sich rasch. Aus dem anatolischen Kleinbauern wird ein Lohnarbeiter. Aber der soziale und kulturelle Überbau wälzt sich viel langsamer um. Im Kopf und in den kulturellen Vorstellungen bleibt der Arbeiter ein moslemischer Kleinbauer mit seinen traditionellen Vorstellungen von Ehre, Anstand und so weiter. Bei der raschen Industrialisierung Bayerns in den 1960/70er Jahren gab es ein vergleichbares Phänomen zu beobachten: Die Bauernsöhne wurden Industriearbeiter, waren im Bewusstsein aber immer noch Kleineigentümer und Kleinunternehmer. Das ist mit eine Erklärung für die Wahlerfolge der CSU bis in die 1980er Jahre hinein.

Sarrazin interpretiert das falsch als »Sozialstaatsfalle« - also als ökonomisch rationales Verhalten von Muslimen als nutzenmaximierenden Individuen, die bewusst Sozialleistungen statt Arbeitslohn wählen. Sein Befangensein in der neoklassischen Modellwelt verzerrt sein Verständnis für abweichendes Verhalten.

Ist nun mit dem sozialbiologischen Vorstoß von Sarrazin die Islam-Kritik grundlegend diskreditiert?

Michael Wendl: Nein. Diese Diskussion wird weitergehen. Sie ist auch berechtigt. Sarrazin hat ihr allerdings einen schlechten Dienst erwiesen.

Ist die biologische Erklärung der intellektuellen Degeneration der Unterschicht auch ein Zeichen für Verblödungstendenzen innerhalb der Oberschicht?

Michael Wendl: Ich würde es nicht »Verblödung« nennen. Sarrazin demonstriert das Scheitern der neoliberalen Wirtschaftstheorie. Er demonstriert aber auch, dass er unverändert in diesen Dogmen weiterdenkt und deshalb zu nationalistischen und rassistischen Schlussfolgerungen kommt. Die kritischen Reaktionen zeigen, dass die Internationalisierung der Weltgesellschaft so vorangeschritten ist, dass eine so provinzielle deutsche Sicht sowohl von links wie vom globalisierten Bürgertum kritisiert wird. Was ich an Sarrazins Argumentation erschreckend finde, ist, dass er nach der Finanzmarktkrise ohne einen Hauch von kritischer Reflexion an dem gescheiterten neoklassischen Modell festhält, nachdem die Medien bis hin zum Handelsblatt geschrieben und Ökonomen wie Hans-Werner Sinn gesagt haben, in der aktuellen Situation müsse man wieder mit keynesianischen Mitteln fahren. Das ist völlig an ihm vorbei gegangen.




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