Die ängstliche Prinzessin und der
Feuerwerksdrache
Vor langer Zeit lebte die Prinzessin Priscilla im großen und schönen Schloß ihres Vaters. Sie war eine kleine und ängstliche Prinzessin. Vor vielen Dingen hatte sie Angst: Vor lautem Lachen, vor dem stacheligen Kaktus, auf ihrer Fensterbank, einmal erschrak sie fürchterlich, als ihr am Schloßteich ein Frosch vor die Füße sprang, sie hatte Angst vor dem großen Hund des königlichen Hofjägers. Anfangs hatte sie sogar Angst vor dem schwarzbärtigen Ritter, der seit kurzer Zeit dafür abgestellt war, über ihre Sicherheit zu wachen (aber auch nur ein bißchen, und das gab sich schnell!), Aber am meisten Angst hatte sie vor Drachen. Sie hatte noch nie im Leben einen Drachen gesehen, aber schon viel davon gehört. Sie wußte, daß Drachen böse sind, Städte, Schlösser und Burgen angreifen, alles zu Schutt und Asche verbrennen, und - daß sie Prinzessinnen raubten! Das alles kannte sie aus alten Märchen und Geschichten!
Eines nachts konnte Prinzessin Priscilla nicht schlafen, weil sie an die vielen gefährlichen Drachen denken mußte, die draußen, außerhalb des sicheren Schloßbereiches, ihr Unwesen treiben sollten! Sie sprang aus ihrem Bettchen und klopfte gegen die schwere Eichentür, die sie alleine nicht öffnen konnte. Sofort machte ihr der schwarzbärtige Ritter, der die ganze Nacht über vor ihrem Zimmer wachte, auf und fragte, mit tiefer und freundlicher Stimme: »Was ist, meine Prinzessin? Könnt Ihr nicht schlafen?«. Und Prinzessin Priscilla erzählte ihm schnell, was sie bedrückte. »Oh, Ihr habt also Angst vor Drachen!« sagte der freundliche Ritter, »Wie kommt das? Hat Euch schon einmal einer etwas böses angetan?«.
»Nein,« antwortete die kleine Prinzessin, »aber ich habe schon viel böses über sie gehört! Heute Nachmittag erst habe ich zugehört, wie der Knecht Karl Käsebleich den Mägden im Hof berichtet hat, daß er jemanden kennt, der gehört hat, daß einer mit eigenen Augen sah, wie ein Drache zwanzig Mägde mit einem Happs verspeist hat!«.
Der Ritter schüttelte mißbilligend den Kopf: »Prinzessin Priscilla! Der Knecht Karl Käsebleich erzählt sehr viel, wenn ihm jemand zuhört! Ihr solltet aber nicht alles glauben! Und vor allen Dingen solltet Ihr nicht alles Böses glauben, was andere über Dritte erzählen, schon gar nicht über Drachen!«.
»Ach, dann gibt es gar keine bösen Drachen?« fragte die kleine Prinzessin. »Hm!«, der Ritter strich sich durch den Bart, »Das will ich nun auch nicht gerade sagen! Ich habe schon manchen Drachen getroffen, der ein ganz übler Bursche war! - Aber die meisten sind sehr nett, freundliche Wesen, die es gut meinen, und viele haben großen Spaß daran, Menschen eine Freude zu bereiten!«.
»Ach!« meinte Prinzessin Priscilla verwundert, »Das wußte ich gar nicht! - Und was machen die dann so?«.
Der Ritter lächelte sie an: »Es gibt einige Drachen, die bewachen die Blumen! Sie helfen ihnen zu keimen, zu wachsen und zu blühen! Andere wärmen mit sanftem Feuer die Tiere der Bauern im Stall, wenn der Winter gar zu kalt wird! Wieder andere fliegen durch die Lüfte und blasen die Wolken fort, damit die Sonne ungehindert scheinen kann, wenn es Zeit dazu ist!«
»Das machen alles die Drachen?« fragte die kleine Prinzessin erstaunt. »Na,« erwiderte der Ritter, »nicht nur die! Aber viele Drachen helfen gerne der Natur, wenn sie können!«.
Nachdenklich stand die kleine Prinzessin da, dann sprach sie: »Hm, ich fürchte mich immer noch vor Drachen, aber ich glaube, ich bin neugierig geworden, einmal einen kennenzulernen!«.
»Dann, Prinzessin, folgt mir!« antwortete der Ritter, »Ich will Euch einen ganz wunderbaren Drachen zeigen!«.
Prinzessin Priscilla strahlte glücklich: »Das könnt Ihr? Jetzt?«.
»Ja, aber wir müssen das Schloß verlassen, und uns auf das freie Feld jenseits der Schloßmauern begeben!«, erklärte der Ritter, und die kleine Prinzessin gab zurück: »Oh, wir müssen ins Dunkle hinaus? Ich glaube, dann ist es besser, wenn Ihr mich auf den Arm nehmt! Sonst habe ich Angst!«
Der Ritter lächelte und hob das Mädchen empor. Er schloß die Zimmertür und drehte sich um. Sie standen vor einem der hohen, offenen Spitzbögen des Schloßflures: »Seht, Prinzessin!«, er wies auf den dunklen, mit leuchtenden Sternen beglänzten Himmel, »Dort werden wir einen ganz besonders wunderbaren Drachen sehen, in dieser Nacht!«.
»Einen bösen Drachen?« fragte die kleine Prinzessin Priscilla und kuschelte sich an den Ritter.
»Nein! Ganz und gar nicht!«, antwortete der, und er fügte hinzu: »Aber seht selbst!«.
Und er ging mit der Prinzessin den Flur hinunter, verließ mit ihr das Schloß und suchte eine kleine Anhöhe am nördlichen Schloßtor auf.
Er stellte Prinzessin Priscilla wieder auf ihre Füße und erklärte ihr: "Prinzessin, hier sind wir am richtigen Ort, nun müssen wir den Drachen rufen! - Bei diesem Drachen, der dort hinten in den Wäldern wohnt, geht das am besten so:
,Lieber Drache, zeige dich,
ich lache und verneige mich!',
dann müßt Ihr lachen und Euch verbeugen!".
Der Ritter machte es vor, lachte voll und aus tiefer Kehle, dann bot er eine vollendete höfische Verneigung dar, die der kleinen Prinzessin, obwohl sie noch ziemlich ängstlich war, so komisch vorkam, daß sie laut lachen mußte. Dabei krümmte sie sich dermaßen, daß es wie eine Verbeugung aussah.
Da erschien über dem entfernt liegenden, dunklen Wald ein silberner Lichtkranz. Und jäh schoß ein feuriger Strahl daraus hervor.
Obwohl sich die kleine Prinzessin fürchterlich erschrak, meinte sie auf einmal eine wunderschöne Musik wahrzunehmen, die den Feuerstrahl zu begleiten schien, als er aus der Mitte des Waldes in den Himmel fuhr.
,,Oh!" flüsterte Prinzessin Priscilla andächtig, und sah, wie eine Gestalt mit großen Flügeln, schnell aus dem Wald aufstieg und nach oben flog.
Priscilla konnte das Wesen nicht richtig erkennen, das dunkel in die schwarzen Wolkenberge am Nachthimmel hineinzog. Beinahe begann sie sich schon wieder zu fürchten, als plötzlich - unter einem lauten Paukenschlag - ein greller Blitz über den Himmel zuckte, gefolgt von flirrendem, schillerndem und glänzenden Sternenregen.
Dann jagte das Wesen aus den Wolken herab, flog blitzschnell durch die Luft und hielt auf den Ritter und die Prinzessin zu: »Das muß der Drache sein,« dachte das kleine Mädchen und sah buntschimmernde Funken, in den Farben Rot, Gold, Weiß, Blau, Lila, Grün und Silber, aus dem großen, lächelnden Maul des Drachen zur Erde fallen.
Prinzessin Priscilla war begeistert.
»Das ist aber schön!« rief sie dem Ritter zu und sie war ganz glücklich, als der Drache mit einer Rolle rückwärts einen heftig zischenden Goldstrahl ausblies, der unter einem abebbenden Paukenschlag verblaßte.
Dann wirbelte er, von einem silbernen Glanz umgeben,
in schnellen und kurzen Rollen durch den Himmel. Die Prinzessin mußte wieder lachen, so lustig kam ihr das vor: ein großer, freundlicher Drache, der durch die Luft wirbelt und am Himmel einen Purzelbaum nach dem nächsten schlägt.
Danach entfernte er sich für einen kurzen Moment, indem er immer kleiner und kleiner wurde. Dann wurde er wieder größer, kam auf die Prinzessin zu. Er verharrte und war ihr schon sehr nahe gekommen. Sie sah in seinem großen, grünen Drachengesicht ein breites und freundliches Lächeln. erstarrte für einen Moment in der Luft und blies einen neuen Feuerstrahl aus. Als dessen Licht verebbt war, standen plötzlich, für wenige, kurze Augenblicke, viele wunderschöne, gold-, silber-, blau- und grünfarbene Blumen am Himmel.
Ein heller Gongschlag ertönte, und der Himmel färbte sich schwarz.
Danach fuhr der Drache noch einmal hervor, jagte über die Himmelsfläche und spuckte überall kleine rote Sternchen in die Luft.
Der Himmel verdunkelte sich nun endgültig und der und der Drache war verschwunden.
Prinzessin Priscilla war glücklich und der schwarzbärtige Ritter trug sie zurück in das Schloß.
Bevor sie in ihrem Bettchen einschlief, mußte die kleine Prinzessin noch einmal an ihr Erlebnis denken.
»Ich glaube,« sagte sie bei sich, »wenn man genug über die Welt weiß, dann muß man gar nicht mehr so viel Angst zu haben!«. Und sie beschloß, künftig noch viel mehr von der Welt kennenzulernen.
|