Prominente Ex-Terroristen aus dem Umkreis Bin Ladens brechen mit dem Dschihad. Dazu gehört vor allem der Ägypter Dr. Fadl, der zu den Gründern des internationalen Netzwerks zählt. Experten halten den Sinneswandel für eine verspätete Reaktion auf den 11. September.
Noman Benotman steuert ein Restaurant in der Park Lane an, sehr teuer, minimalistisch im Design, wie es in London gerade hip ist. An den Nebentischen sitzen Geschäftsleute in gedämpfter Unterhaltung. Benotman trägt ein orangefarbenes Polohemd zum graukarierten Blazer, er passt ganz gut hierher.
Benotman stammt aus Libyen, er ist 41 Jahre alt, und in seinem früheren Leben war er ein Gotteskrieger. Er kämpfte in Afghanistan gegen die Soldaten der Sowjetunion, und aus diesen Tagen, die später heroisch verklärt wurden, kennt er auch Osama Bin Laden. Benotman sagt, er wisse, wie man mit einer AK-47 umgehe, und er habe den sowjetischen Piloten in ihren Hubschraubern ins Gesicht sehen können, bevor er sie abschoss.
Als die Sowjetarmee ruhmlos aus Kabul und Kandahar abzog, da ging er in seine Heimat zurück und wurde zu einem Anführer der »Libysch-Islamischen Kampfgruppe«. Mit einigen hundert Anhängern wollte er das Gaddafi-Regime stürzen, das er für korrupt und unislamisch erachtete. In der Zeit vor dem 11. September 2001 war der Libyer eine große Nummer im sich ausbreitenden Netzwerk des Terrorismus.
Jetzt sitzt er in einem Londoner Restaurant mit weißlivrierten Kellnern und bestellt in sehr britischem Englisch Espresso mit einem Glas Wasser.
Benotman kommt gerade aus Libyen zurück, diesmal war er dort im Auftrag der Regierung Gaddafi unterwegs, die er ein Jahrzehnt zuvor aus dem Weg räumen wollte. Ihm fällt derzeit eine besondere Aufgabe zu: Er soll inhaftierte Mitglieder seiner früheren Terrorgruppe dazu bewegen, eine Art Friedensabkommen zu unterzeichnen. 25-mal reiste er in den vergangenen 16 Monaten nach Libyen, jetzt aber, so sagt er, sei das Manifest zur Rückkehr ins normale Leben so gut wie geschrieben - und fast auch schon unterschrieben.
In diesem Dokument sollen sich die Terroristen, die meisten sind seit längerer Zeit in Haft, von der Gewalt und dem Mord an Zivilisten distanzieren. Zusätzlich soll darin ein Dementi enthalten sein, denn die Qaida hatte vor kurzem verbreitet, die »Libysch-Islamische Kampfgruppe« habe sich ihr angeschlossen. Das stimme nicht, sagt Benotman, die Libyer wollten schon lange nichts mehr mit al-Qaida zu tun haben. Bei seiner neuen Mission geht er keineswegs klammheimlich vor, im Gegenteil: Der arabische Fernsehsender al-Dschasira berichtete kürzlich über seine Reisen nach Libyen - dass ein ehemaliger Dschihadist versucht, Frieden zu schaffen, ist ja auch ein ziemlich spektakulärer Vorgang.
Nicht nur in Libyen finden seit einiger Zeit bemerkenswerte Absetzbewegungen von al-Qaida und ihren Gründern statt. Knapp sieben Jahre nach den Anschlägen am 11. September und zehn Jahre nach der Gründung der »Internationalen Islamischen Front für den Dschihad gegen Juden und Kreuzritter«, die Bin Laden und Aiman al-Sawahiri ins Leben riefen, gibt es Risse im monolithischen Block.
Wenn man sich al-Qaida, wie die Experten gern sagen, als terroristisches Franchise-System vorstellen soll, mit Filialen in vielen Ländern, dann proben gegenwärtig etliche Filialleiter den Aufstand. Sie distanzieren sich von den Ikonen des Terrors, von deren Zielen und Mitteln. Dabei handelt es sich offenbar um interne Vorgänge, um einen Disput innerhalb der verschiedenen Gruppen, der seit längerem schwelt und jetzt ausbricht. Und offenbar hängt diese Entwicklung nicht kausal mit dem Krieg Amerikas gegen den weltweiten Terrorismus zusammen.
Im Mai trafen sich Experten aus Europa und Amerika in Florenz, um den Stand der Dinge zu bereden. Sie taten sich schwer damit einzuschätzen, wie viele zum Krieg gegen den Westen entschlossene Terroristen es heute geben mag. Die Mehrheit der Experten war der Meinung, dass Osama Bin Laden noch immer praktischen Einfluss auf die weitgefächerten Gruppen besitzt - als Pate und Finanzier der Ausbildungscamps und auch der Anschläge weltweit. Und Bin Laden, davon waren alle Experten überzeugt, wolle noch immer so viele Menschen im Westen töten wie nur irgend möglich.
Die Qaida-Führung wird nach wie vor im zerklüfteten, unzugänglichen Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan vermutet. Von dort schicken Bin Laden und Sawahiri Botschaften an ihre Gläubigen. Sie halten die Abtrünnigen für Kreaturen des verhassten Westens. Vor allem der Ägypter Sawahiri lässt seine Gefolgschaft wissen, Renegaten wie Benotman seien vom Feind gekauft oder durch Folter umgedreht worden. Im Übrigen seien westliche Geheimdienste darauf aus, mit ihrer Propaganda Zwietracht und Unsicherheit unter den Gotteskriegern zu säen.
Sawahiri schickt seine Botschaften per Video oder stellt sie ins Internet. Durchschlagende Wirkung erzielt er damit aber momentan nicht.
Ende Mai erließ die einflussreiche religiöse Deoband-Bewegung in Indien eine Fatwa gegen Terrorismus. Auf einer Versammlung in Neu-Delhi, an der die wichtigsten islamischen Vereinigungen des Landes teilnahmen, verlasen die Gruppen einen abgestimmten Text: »Sinn und Zweck des Islam ist es, alle Arten von Terrorismus auszulöschen und die Nachricht von globalem Frieden zu verbreiten. Solche, die den Koran und die Kunde des Propheten Mohammed benutzen, um Terror zu rechtfertigen, halten nur eine Lüge aufrecht.«
Der oberste Mufti der Deobandis und drei Abgesandte unterzeichneten stellvertretend dieses Dokument. »In der theologischen Bedeutung entspricht das ungefähr einem Urteil des Obersten Gerichts in Washington«, erklärte der Aktivist Javed Anand später. Die Deobandis wählten ihren Namen nach einer kleinen Stadt im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh, sie haben Kämpfer in der islamischen Welt inspiriert und religiös geschult. Auf sie beriefen sich militante pakistanische Gruppen, Dschihadisten im Irak und auch die Taliban viele Jahre lang. Damit ist es nun vorbei.
Oft fangen ehemalige Militante, die sich vom Dschihad losgesagt haben, damit an, ihre Kampfgefährten von früher zu missionieren. So gründeten Ende April in London einige Umkehrer aus der militanten islamistischen Gruppe »Hizb ut-Tahrir«, 1953 in Jordanien gegründet mit Ablegern in rund 40 Ländern, eine Stiftung, die den Fundamentalismus unter Muslimen in Europa bekämpfen soll.
Maajid Nawaz, 31, ist der Direktor dieser Stiftung, der »Quilliam Foundation«. Er hatte zuerst in Pakistan und später in Dänemark geheime Zellen aufgebaut. Fünf Jahre lang saß er in Ägypten im Gefängnis, wo er sich vom radikalen Islamismus abwandte. Die Stiftung wurde im British Museum gegründet, Nawaz hielt seine Rede im gutsitzenden Boss-Anzug, den Bart sorgfältig gestutzt: »Ich habe mich vom Islamismus abgewandt, weil ich ihn als Fluch des Islam erkannt habe«, erklärte er.
Der Anfang der kleinen Rebellion in der Qaida geht auf den Mai 2007 zurück. Damals ging bei der in London erscheinenden arabischen Zeitung »al-Schark al-ausat« ein Fax ein. Abgeschickt hatte es eine der Koryphäen der Qaida, ein Mann, von dem Bin Laden lernte, ehe er von Peschawar hinüber nach Afghanistan ging, lange bevor er selbst zur Lichtgestalt in der islamischen Welt wurde. Der Mann heißt Sajjid Imam al-Scharif, er ist eigentlich Arzt, stammt aus Ägypten, genau wie Sawahiri, später sein Konkurrent um die Gunst Bin Ladens. Besser bekannt ist Scharif unter seinem Nom de Guerre: Dr. Fadl.
Interessanterweise schickte Dr. Fadl, 58, das Fax aus dem Gefängnis. Seit 2004 sitzt er in Kairo lebenslänglich in Haft. Nun schrieb er, der Dschihadismus sei verwerflich, da er mit den Regeln des Islam und der Scharia breche: Es entspreche nicht dem Koran, Menschen allein aufgrund ihrer Nationalität zu töten, zumal solchen Attentaten oft genug »unschuldige Muslime und Nichtmuslime« zum Opfer fielen. »Bekämpfe für Gottes Sache solche, die dich bekämpfen, aber überschreite dabei nicht die Grenzen«, mahnte der bekehrte Dr. Fadl.
Der »Chefideologe der Qaida«, einer ihrer Gründer, will nichts mehr zu tun haben mit der Qaida und Bin Laden und Sawahiri: Das war eine Sensation, eine Zäsur für das Netzwerk des Terrors.
»Als ich das Fax las, habe ich erst gedacht, dazu muss er gezwungen worden sein«, sagt Mohammed al-Schafei, ein Redakteur der arabischen Zeitung in London, die das Dokument der Abkehr druckte. »Fadl war das Gehirn, der Think-Tank des Dschihad. Erst später, als ich sein neues Buch gelesen habe, begriff ich, dass er es wirklich so meinte, wie er es schrieb.« In der Zelle schrieb Dr. Fadl ein Buch zur Begründung für seine Wandlung, die er im Fax angekündigt hatte.
Dr. Fadl galt nicht nur als Kopf der al-Qaida, sondern auch als Mentor Sawahiris. Beide sind Chirurgen, zusammen studierten sie an der Medizinischen Fakultät in Kairo. Sawahiri wurde nach der Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat im Jahr 1981 als einer unter Tausenden festgenommen. Fadl flüchtete nach Pakistan. In Peschawar behandelte er fortan verletzte Kämpfer aus Afghanistan.
Sawahiri saß seine Strafe in Kairo ab, dann kam auch er nach Peschawar, dem Hauptquartier sinnsuchender Islamisten. Die Rangordnung zwischen den beiden war in dieser Zeit geklärt: Dr. Fadl erschien als der Überlegene, man sagte ihm ein enzyklopädisches Wissen über den Koran nach.
Am 11. August 1988 trafen Dr. Fadl und Sawahiri in Peschawar zum ersten Mal mit einem jungen Saudi-Araber namens Osama Bin Laden und einem Palästinenser namens Abdullah Assam zusammen. Diese vier gründeten später al-Qaida, »die Basis«, den Kampfbund gegen die Ungläubigen, den Westen, die Weltmacht USA, nachdem die andere Weltmacht Sowjetunion sich aufgelöst hatte. Bin Laden besaß Geld und Getreue, die anderen hatten sich den ideologischen Überbau für den Dschihad ausgedacht.
Bald schrieb Dr. Fadl eine Art Handbuch des Dschihadismus. Darin steht, der Heilige Krieg sei der Naturzustand des Islam und die »einzige Möglichkeit, die Herrschaft der Ungläubigen« zu beenden. Fadls Abkehr von der Qaida lässt sich nicht so leicht als unerheblich abtun.
Einer der Gründer erklärt die Ideologie der Qaida zum Irrtum, die Anschläge vom 11. September für einen Irrweg: ein schwerer Schlag für Bin Laden und Sawahiri. »Dr. Fadl stellt ihre theologische Autorität fundamental in Frage«, sagt Lawrence Wright, der in seinem Buch »Der Tod wird euch finden« die Entstehungsgeschichte der Qaida beschreibt. »Nichts im Islam erlaube, sagt Dr. Fadl, dass das Ziel die Mittel heilige. Weder Christen noch Juden dürften umgebracht werden, außer wenn sie Muslime aktiv angreifen.« Die Terrororganisation, meint Wright, stehe vor der größten Zerreißprobe ihrer Geschichte.
Wie ernst Sawahiri das Pamphlet der Revision nahm, zeigt seine Antwort auf 200 Seiten im März dieses Jahres, auch im Internet veröffentlicht. Er kann sich Dr. Fadls Wandlung nur als Auftragsarbeit arabischer Geheimdienste in konzertierter Aktion mit der CIA vorstellen, geschrieben unter Folter - das mag sogar so sein, aber wahr ist auch, dass verlassene Führer zu allen Zeiten so abfällig über einstige Kampfgefährten geurteilt haben.
»Wenn du vorgibst, diese Operationen seien nicht legal«, spricht die Nummer zwei der Qaida den einstigen Weggefährten direkt an, »dann dürfte das auch auf alle in Palästina durchgeführten Operationen zutreffen« - und Attentate der Palästinenser gegen Israelis habe er nie in Frage gestellt.
Paul Cruickshank von der New York University und der Terrorexperte Peter Bergen gingen sechs Monate lang den inneren Wallungen in der Qaida nach. Cruickshank glaubt, dass es ironischerweise der Irak-Krieg war, der die latente Kritik an Bin Laden und seinem Dschihad-Konzept hinausgezögert habe: »Was jetzt hochkommt, hat schon lange gebrodelt.« Amerikanische Soldaten, die heiligen Boden besetzen - den Dschihad im Irak hätten alle Großfiguren des Terrorismus für gerechtfertigt gehalten.
Kein Zweifel, al-Qaida ist nach wie vor eine skrupellose und gefährliche Terrororganisation, auch wenn sie im Irak an Einfluss verloren hat. In Pakistan und Afghanistan, ihren Kernländern, genießt sie wieder Zulauf. Dort hilft die Qaida, wie früher im Verbund mit den wiedererstarkten Taliban, die Regierungen in Islamabad und Kabul ernsthaft zu gefährden. »Doch langfristig wird die ideologische Debatte sie vor große Probleme stellen«, meint Peter Bergen. »Schon heute haben sie Schwierigkeiten, Rekruten in Europa zu finden.«
Der Stimmungsumschwung, den Experten wie Bergen in Europa erkennen wollen, schlägt sich in der Londoner Tawhid-Moschee nieder. Zwei der mutmaßlichen Attentäter, die Ende Juni 2007 Anschläge in London und Glasgow verüben wollten und damit scheiterten, kamen öfter hierher. »Inzwischen aber haben die Leute genug davon, dass Islam immer gleichgesetzt wird mit Terrorismus«, sagt Usama Hasan, 36 Jahre alt und Imam der Moschee.
Hasan hält nun das Freitagsgebet im Anzug: »Ich bin ein im Westen lebender Muslim, das soll jeder sehen.« Auch er hat früher in Afghanistan gekämpft, auch er gehörte einer Fundamentalistengruppe an. Nun predigt Hasan Verzicht auf Gewalt und verdammt den Terrorismus.
»Ich habe das Gefühl, dass sich langsam etwas verändert«, sagt auch der Libyer Benotman über die kleine Serie prominenter Überläufer. Einst war er so bekannt im Kreis der Dschihadisten, dass Osama Bin Laden sich mit ihm abgab. Das war im Sommer 2000 in Kandahar, Gruppen aus vielen Ländern, insgesamt knapp 200 Leute, waren zusammengekommen. Benotman wohnte in einem Gästehaus, das Bin Laden gehörte.
Die Libyer hielten nicht viel vom Kreuzzug gegen die USA, über den damals in Kandahar ausgiebig geredet wurde. Sie befürchteten Rückschläge im eigenen Land. Sogar der Taliban-Führer Mullah Omar sei dafür gewesen, Israel anstatt Amerika anzugreifen, will sich Benotman erinnern. »Wir erklärten Bin Laden damals, er könne nicht allen Arabern seine Strategie aufzwingen«, erzählt der Libyer heute im Rückblick. »Er antwortete darauf, es gebe aber eine Operation, die er nicht mehr aufhalten könne, denn die Kämpfer seien schon bereit.« Bin Laden meinte die Attentäter des 11. September.
Nach dem Angriff auf Amerika gingen die Libyer eigene Wege. Benotmans offenen Brief an Sawahiri haben im vorigen Jahr einige Zeitungen in Libyen veröffentlicht. Seit vier Jahren lebt er in London. Er sagt, er sei nie im Gefängnis gewesen, weder in Libyen noch irgendwo sonst.
Und dann verlässt der elegant gekleidete Mann, der einmal ein Gotteskrieger war, das feine Restaurant und verschwindet in der U-Bahn-Station Green Park.
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