„Deutschland zieht sich um – in Richtung Auflösung“
Ein modischer Blick auf ein Land, das sich in Polyester versteckt.
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Von: Yves Marquard
Schweizer. Modemensch. Beobachter am Rand des Grauens.
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Deutschland, das ist nicht einfach ein Land.
Es ist ein Zustand in Jackenform.
Ein Gefühl aus Cord, Funktionsstoff und Flucht in Mittelmaß.
Ein Volk, das sich jeden Tag bemüht, nicht zu wirken –
und dabei grandios sichtbar wird.
Im Scheitern an Eleganz.
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Kleidung als Kollektivpsychogramm
Wer wissen will, wie es einem Land geht,
der muss sich nur ansehen, wie seine Menschen sich kleiden.
Deutschland?
Trägt den Kollaps.
In gedeckten Farben.
Mit Stretchanteil.
Die Kleidung der Republik ist keine Hülle –
sie ist ein Schutzschild gegen alles, was strahlt.
Was lebt.
Was riskiert.
Denn Stil bedeutet Entscheidung.
Und Entscheidung bedeutet: Verantwortung.
Und davor hat man Angst.
Also lieber: Beige.
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Der Stoff der Erschöpfung
Der deutsche Blazer ist nicht geschnitten –
er ist ergeben.
Er fällt nicht, er hängt.
Und in seiner Stofflichkeit schwingt all das mit,
was dieses Land lähmt:
Verwaltung. Vorsicht. Verzicht.
Man sieht Menschen, die aussehen,
als hätten sie sich mit schlechtem WLAN angezogen.
Jede Bewegung gepuffert.
Jeder Gedanke unterdrückt durch Merino.
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Politiker tragen das Land wie einen zu engen Anzug
Es gibt Berufe, da wäre ein Mindestmaß an visuellem Charisma wünschenswert.
Zum Beispiel: Menschen, die ein Land führen.
Stattdessen:
Anzüge wie Verlegenheiten.
Blazer wie Absichtserklärungen ohne Inhalt.
Krawatten in Farben, die sich entschuldigen, bevor sie wirken dürfen.
Und dann: Schuhe.
Oh, die Schuhe.
Sie sagen:
„Ich bin kein Modemensch.“
Aber leider auch:
„Ich bin kein Mensch mit irgendeiner ästhetischen Verbindung zur Welt.“
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Die Mitte trägt Mitläufertum
Was in der Politik ausstrahlt, sickert nach unten.
In Talkshows, in Redaktionen, in Vorstandsetagen.
Man kleidet sich, als wolle man Teil der Lösung sein –
aber nur dann, wenn’s nicht aufträgt.
Nicht auffällt.
Nicht zwickt.
Man ist modern – aber nie modisch.
Man ist korrekt – aber nie charmant.
Man ist clean – aber nie lebendig.
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Die Verweigerung von Stil als Statussymbol
Es gibt Länder, die feiern das Spiel mit Stoff.
Frankreich flirtet.
Italien verführt.
England inszeniert.
Deutschland?
Storniert.
Stil wird hier als verdächtig empfunden.
Als eitel.
Als gefährlich.
Als Symbol einer Individualität, die unbequem werden könnte.
Also wird alles glattgezogen, weichgespült, relativiert.
Im Zweifelsfall hilft: eine graue Jacke.
Denn Grau beleidigt niemanden.
Nicht mal die Zukunft.
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Fazit: Die Hülle ist das Bekenntnis
Deutschland hat sich angezogen wie ein Land,
das nicht mehr weiß, wohin es will.
Also bleibt es stehen.
Im Dresscode der Demokratiemüdigkeit.
Die Kleidung verrät, was keiner sagt:
Wir sind nicht nur erschöpft –
wir haben uns darin eingerichtet.
Mit Fleece. Mit Stretch. Mit schwindender Silhouette.
Und während andere Länder sich neu einkleiden,
steht Deutschland da.
In Jack Wolfskin.
Und sagt:
„Das reicht doch.“
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