Viel ist über die deutsche Neurose gesagt worden, es herrscht kein Mangel an Theorien, Büchern, soziologischen, psychologischen, politologischen Arbeiten zu dem Phänomen des deutschen Minderwertigkeitsgefühls. Die Zahl der Publikationen ist so groß, daß man versucht ist, den Deutschen eine leidenschaftlich leidende Selbsterforschungslust zu attestieren, die ihrerseits Teil des Phänomens ist, das sie ergründen will.
Auf der Suche nach Ursachen für den Minderwertigkeitskomplex bietet sich die Schmach dessen an, was wir verschämt mit „die jüngere deutsche Geschichte“ umschreiben. Es leuchtet ein: Wir haben es mit einer kollektiven Identitätskrise zu tun, resultierend aus dem Desaster, in das unser einst so übersteigertes Identitätsgefühl uns und die Welt gestürzt hat.
Doch dem deutschen Komplex ist mit solchen monokausalen Modellen nur unzureichend beizukommen. Was sich uns verdächtig schnell als Ursache anbietet, ist selbst schon Folge. Aggressives Nationalgefühl und Minderwertigkeitskomplex als Gegensätze zu betrachten, heißt, die Natur beider zu verkennen. Vielmehr sind beide Ausdruck derselben umfassenden deutschen Identitätskrise. Komplex und Selbstübersteigerung schließen sich nicht aus, sie bedingen einander.
Nicht erst nach dem Krieg war es „in“, als Deutscher an seinem Land zu leiden. Der suizidale deutsche Selbsthaß ist Ausdruck derselben krankhaften Ich-bezogenheit, die uns den nationalen Wahn erst beschert hat. Sturm und Drang, deutsche Romantik - diese Epochen haben die Nabelschau mit Todesfolge literarisch zelebriert, Hitler hat sie in Politik umgesetzt.
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