Wie die Sexualität des Mannes örtlich gegen Asexuelles in ihm hervortritt, so findet sich dieselbe Ungleichheit auch in seinem Verhalten zu verschiedenen Zeiten ausgeprägt. Das Weib ist fortwährend, der Mann nur intermittierend sexuell. Der Geschlechtstrieb ist beim Weibe immer vorhanden [...], beim Manne ruht er immer längere oder kürzere Zeit. Daraus erklärt sich nun auch der eruptive Charakter des männlichen Geschlechtstriebes, der diesen so viel auffallender erscheinen läßt als den weiblichen und zu der Verbreitung des Irrtumes beigetragen hat, daß der Geschlechtstrieb des Mannes intensiver sei als der des Weibes. Der wahre Unterschied liegt hier darin, daß für M der Begattungstrieb sozusagen ein pausierendes Jucken, für W ein unaufhörlicher Kitzel ist.
Die ausschließliche und kontinuierliche Sexualität des Weibes in körperlicher und psychischer Hinsicht hat nun aber noch weiterreichende Folgen. Daß die Sexualität nämlich beim Manne nur einen Appendix und nicht alles ausmacht, ermöglicht dem Manne auch ihre psychologische Abhebung von einem Hintergrunde und somit ihr Bewußtwerden. So kann sich der Mann seiner Sexualität gegenüberstellen und sie losgelöst von anderem in Betracht ziehen. Beim Weibe kann sich die Sexualität nicht durch eine zeitliche Begrenzung ihrer Ausbrüche noch durch ein anatomisches Organ, in dem sie äußerlich sichtbar lokalisiert ist, abheben von einer nicht sexuellen Sphäre. Darum weiß der Mann um seine Sexualität, während die Frau sich ihrer Sexualität schon darum gar nicht bewußt werden und sie somit in gutem Glauben in Abrede stellen kann, weil sie nichts ist als Sexualität, weil sie die Sexualität selbst ist, wie in Antizipation späterer Darlegungen gleich hinzugefügt werden mag. Es fehlt den Frauen, weil sie nur sexuell sind, die zum Bemerken der Sexualität wie zu allem Bemerken notwendige Zweiheit; indessen sich beim stets mehr als bloß sexuellen Manne die Sexualität nicht nur anatomisch, sondern auch psychologisch von allem anderen abhebt. Darum besitzt er die Fähigkeit, zur Sexualität selbständig in ein Verhältnis zu treten; er kann sie, wenn er sich mit ihr auseinandersetzt, in Schranken weisen oder ihr eine größere Ausdehnung einräumen, er kann sie negieren oder bejahen: zum Don Juan wie zum Heiligen sind die Möglichkeiten in ihm vorhanden, er kann die eine oder die andere von beiden ergreifen. Grob ausgedrückt: der Mann hat den Penis, aber die Vagina hat die Frau.
Otto Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 115 ff.
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