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Duda, am 6.7. 2003 um 16:53:36 Uhr
Dadaismus

dadaistisches manifest
Richard Huelsenbeck

»Die Kunst ist in ihrer Ausführung und Richtung von der Zeit abhängig, in der sie
lebt, und die Künstler sind Kreaturen ihrer Epoche. Die höchste Kunst wird
diejenige sein, die in ihren, Bewußtseinsinhalten die tausendfachen Probleme
der Zeit präsentiert, der man anmerkt, daß sie sich von den Explosionen der
letzten Woche werfen ließ, die ihre Glieder immer wieder unter dem Stoß des
letzten Tages zusammensucht. Die besten und enerhörtesten Künstler werden
diejenigen sein, die stündlich die Fetzen ihrer Leibes aus dem Wirrsal der
Lebenskatarakte zusammenreißen, verbissen in den Intellekt der Zeit, blutend
an Händen und Herzen. Hat der Expressionismus unsere Erwartungen auf eine
solche Kunst Kunst erfüllt, die eine Ballotage unserer vitalsten Angelegenheiten
ist? Nein! Nein! Nein! Haben die Expressionisten unsere Erwartungen auf eine
Kunst erfüllt, die uns die Essenz des Lebens ins Fleisch brennt? Nein! Nein! Nein!
Unter dem Vorwand der Verinnerlichung haben sich die Expressionisten in der
Literatur und in der Malerei zu einer Generation zusammengeschlosses, die
heute schon sehnsüchtig ihre literatur und kunsthistorische Würdigung erwartet
und für eine ehrenvolle Bürger-Anerkennung kandidiert. Unter dem Vorwand, die
Seele zu propagieren, haben sie sich im Kampfe gegen den Naturalismus zu den
abstrakt-pathetischen Gesten zurückgefunden, die ein inhaltloses, bequemes
und unbewegtes Leben zur Voraussetzung haben. Die Bühnen füllen sich mit
Königen Dichtern und faustischen Naturen jeder Art, die Theorie einer
Melioristischen Weltauffassung, deren kindliche, psychologisch-naivste Manier
für eine kritische Ergänzung des Expressionismus signifikant bleiben muß,
durchgeistert die tantenlosen Köpfe. Der Haß gegen die Presse, der Haß gegen
die Reklame, der Haß gegen die Sensation spricht für Menschen, denen ihr Sessel
wichtiger ist als der Lärm der Straße und die sich einen Vorzug daraus machen,
von jedem Winkelschieber übertölpelt zu werden. Jener sentimentale
Widerstand gegen die Zei, die nicht besser und nicht schlechter, nicht
reaktionärer und nicht revolutionärer als alle anderen Zeiten ist, jene matte
Opposition, die nach Gebeten und Weihrauch schielt, wenn sie es nicht vorzieht,
aus attischen Jamben ihre Pappgeschosse zu machen - sie sind Eigenschaften
einer Jugend, die es niemals verstanden hat, jung zu sein. Der Expressionismus,
der im Ausland gefunden, in Deutschland nach beliebter Manier eine fette Idylle
und Erwartung guter Pension geworden ist, hat mit dem Streben tätiger
Menschen nichts mehr zu tun. Der Unterzeichner dieses Manifests haben sich
unter dem Streitruf DADA!!!! zur Propaganda einer Kunst gesammelt, von der sie
die Verwirklichung neuer Ideale erwarten. Was ist nun der DADAISMUS? Das Wort
Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit
dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als
ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in
die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern
seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität
übernommen wird. Hier ist der scharf markierte Scheideweg, der den Dadaismus
von allen bisherigen Kunstrichtungen und vor allem von dem FUTURISMUS
trennt, den kürzlich schwachköpfe als eine neue Auflage impressionistischer
Realisierung aufgefaßt haben. Der Dadaismus steht zum erstenmal dem Leben
nicht mehr ästhetisch gegenüber, indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur
und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine
Bestandteile zerfetzt. Das BRUITISTISCHE Gedicht schildert eine Trambahn, wie
sie ist, die Essenz der Trambahn mit dem Gähnen des Rentiers Schulze und dem
Schrei der Bremsen. Das SIMULTANISTISCHE Gedicht lehrt den Sinn des
Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt der
Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert im Keller des
Schlächters Nuttke. Das STATISCHE Gedicht macht die Worte zu Individuen, aus
den drei Buchstaben Wald tritt der Wald mit seinen Baumkronen, Försterlivreen
und Wildsauen, vielleicht tritt auch eine Pension heraus, vielleicht Bellevue oder
Bella vista. Der Dadaismus führt zu unerhörten neuen Möglichkeiten und
Ausdrucksformen aller Künste. Er hat den Kubismus zum Tanz auf der Bühne
gemacht, er hat die BRUITISTISCHE Musik der Futuristen (deren rein italienische
Angelegenheit er nicht verallgemeinen will) in allen Ländern Europas propagiert.
Das Wort Dada weist zugleich auf die Internationalität der Bewegung, die an
keine Grenzen, Religionen oder Berufe gebunden ist. Dada ist der internationale
Ausdruck dieser Zeit, die große Fronde der Kunstbewegungen, der künstlerische
Reflex aller dieser Offensiven, Friedenskongresse, Balgereien am Gemüsemarkt,
Soupers im Esplanade etc. etc. Dada will die Benutzung des neuen Materials in
der Malerei. Dada is ein CLUB, der in Berlin gegründet worden ist, in den man
eintreten kann, ohne Verbindlichkeiten zu übernehmen. Hier ist jeder
Vorsitzender, und jeder kann sein Wort abgeben, wo es sich um künstlerische
Dinge handelt. Dada ist nicht ein Vorwand für den ehrgeiz einiger Literaten (wie
unsere Feinde glauben machen möchten), Dada ist eine Geistesart, die sich in
jedem Gespräch offenbaren kann, so daß man sagen muß: Dieser ist ein DADAIST
- jener nicht; der Club Dada hat deshalb Mitglieder in allen Teilen der Erde, in
Honolulu so gut wie in New Orleans und Meseritz. Dadaist sein kann unter
Umständen heißen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler sein - nur
zufällig Künstler sein - Dadaist sein heißt, sich von den Dingen werfen lassen,
gegen jede Sedimentsbildung sein, ein Moment auf einem Stuhl gesessen, heißt,
das Leben in Gefahr gebracht haben (Mr. Wengs zog schon den Revolver aus der
Hosentasche). Ein Gewebe zerreißt sich unter der Hand, man sagt ja zu einem
Leben, das durch Verneinung höher will. Jasagen - Neinsagen: das gewaltige
Hokuspokus des Daseins beschwingt die Nerven des echten Dadaisten - so liegt
er, so jagt er, so radelt er - halb Pantagruel, halb Franziskus und lacht und lacht.
Gegen die ästhetisch-ethische Einstellung! Gegen die blutleere Abstraktion des
Expressionismus! Gegen die weltverbessernden Theorien literarischer
Hohlköpfe! Für den Dadaismus in Wort und Bild, für das dadaistische Geschehen
in der Welt. Gegen dies Manifest sein heißt Dadaist sein! Tristan Tzara. Franz
Jung. George Grosz. Marcel Janco. Richard Huelsenbeck. Gerhard Preiß. Raoul
Hausmann. O. Lüthe. Frédéric Glauser. Hugo Ball. Pierre Albert Birot. Maria
d'Arezzo. Gino Cantarelli. Prampolini. R. van Rees. Madame van Rees. Hans Arp.
G. Thäuber. Andrée Morosini. François Mombello-Pasquati«


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