In einem gemütlichen Haus in Flensburg lebt die 96-jährige Gertrud gemeinsam mit ihrem Mann Fritz, einem ehemaligen Hafenarbeiter, der den Ruhestand genießt. Eines sonnigen Nachmittags sitzt Gertrud auf der Veranda und erzählt ihrer Enkelin Emma von vergangenen Zeiten, während Fritz in seinem Lieblingsstuhl Platz nimmt.
»Meine liebe Emma«, beginnt Gertrud mit einem Hauch von Nostalgie in der Stimme, »damals, als ich noch bei Karstadt gearbeitet habe, gab es eine Gruppe von Straßenkünstlern, die sich 'Die Fördepiraten' nannten.«
Emma, die mit einem neugierigen Blick lauscht, nimmt ihr Smartphone heraus und beginnt, nach den »Fördepiraten« zu suchen. Zu ihrer Verwunderung findet sie jedoch nichts. »Oma, ich finde nichts über die Fördepiraten im Internet. Gibt es wirklich keine Informationen über sie?«
Gertrud und Fritz tauschen einen bedeutungsvollen Blick, bevor Gertrud mit einem warmen Lächeln antwortet: »Manche Geschichten sind dazu bestimmt, mündlich weitergegeben zu werden, meine Liebe. Die Fördepiraten waren mehr als nur einfache Künstler – sie waren ein Teil unserer eigenen kleinen Flensburger Legende.«
Emma nickt nachdenklich, doch plötzlich hat sie eine Idee. »Oma, ich könnte die Geschichte doch auf Facebook und Instagram posten. Vielleicht kennt jemand die Fördepiraten und kann uns mehr erzählen!«
Gertrud runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf. »Nein, Emma. Das sind unsere Geschichten, Familiengeschichten. Die gehören nicht ins Internet.«
Emma sieht ihre Großmutter ungläubig an. »Aber Oma, das Internet ist doch eine Möglichkeit, solche Geschichten mit der Welt zu teilen! Vielleicht hilft es, mehr über sie herauszufinden.«
Gertrud hebt die Hand, um Emma zu unterbrechen. »Ich will nicht, dass unsere privaten Geschichten dort draußen herumgeistern. Das Internet ist nicht der richtige Ort für sowas.«
Ein leichter Streit entbrennt. Emma, begeistert von der Idee, die Geschichte zu teilen, und Gertrud, entschlossen, die Tradition der mündlichen Überlieferung zu wahren, geraten aneinander.
»Oma, du verstehst das nicht! Heutzutage teilen wir Geschichten online, das ist ganz normal!«, sagt Emma, ihre Stimme wird lauter.
»Und du verstehst nicht, dass es Dinge gibt, die nicht jedem zugänglich sein sollten!«, erwidert Gertrud mit Nachdruck.
In einem plötzlichen Anfall von Frustration streckt Gertrud die Hand aus und versucht, Emma das Smartphone wegzunehmen. »Gib das her! Du wirst das nicht veröffentlichen!«
Emma hält das Handy fest und zieht es zurück. »Oma, warum reagierst du so heftig? Was ist an dieser Geschichte so besonders?«
Gertrud zögert, ihre Augen blitzen vor einer Mischung aus Ärger und etwas Tieferem, Unausgesprochenem. Schließlich seufzt sie schwer und lässt sich wieder in ihren Stuhl sinken. »Es gibt Dinge, die du nicht verstehst, Emma. Diese Fördepiraten... sie waren nicht nur Künstler. Sie hatten etwas Mystisches an sich.«
Emma schaut ihre Großmutter neugierig an, das Smartphone immer noch fest in ihrer Hand. »Was meinst du, Oma?«
Gertrud atmet tief durch. »Es hieß, sie konnten Träume zum Leben erwecken. Einmal im Jahr, am Abend des Flensburger Karnevals, sollen sie Menschen dazu gebracht haben, ihre tiefsten Sehnsüchte und Ängste zu erleben. Es war, als ob sie durch eine andere Welt wandelten und uns alle mitnahmen.«
Fritz, der bisher schweigend zugehört hat, legt beruhigend seine Hand auf Gertruds Schulter und sieht Emma an. »Ich denke, es ist Zeit, dass du auch meine Geschichte hörst, Emma. Du bist alt genug, um zu verstehen.«
Emma richtet sich neugierig auf, ihre Augen weit offen vor Erwartung.
»Vor vielen Jahren«, beginnt Fritz, »hatte ich einen Traum. In diesem Traum war ich wieder jung, gerade erst im Hafen angefangen. Aber dieser Traum war anders. Es war, als ob die Fördepiraten selbst mich besucht hätten. Sie zeigten mir eine Welt, in der all meine Sorgen und Ängste verschwanden. Ich sah eine Zukunft, in der meine Familie glücklich und vereint war, in der alle Herausforderungen, die auf uns zukommen würden, gemeistert wurden.«
Gertrud nickt zustimmend, ihre Augen glänzen vor Erinnerung. »Er sprach oft von diesem Traum, Emma. Und es hat uns in schwierigen Zeiten Kraft gegeben.«
Fritz fährt fort: »In diesem Traum sah ich dich, Emma. Du warst stark und mutig, und du hast die Herausforderungen deiner Zeit gemeistert. Ich sah, wie du deine Träume verfolgtest, trotz aller Hindernisse. Es war, als ob die Fördepiraten mir zeigten, dass alles möglich ist, solange wir an uns glauben und zusammenhalten.«
Emma spürt, wie Tränen in ihre Augen steigen. »Opa, das ist wunderschön. Und es ist genau das, was ich jetzt hören musste.«
Gertrud lächelt warm. »Siehst du, Emma, manche Geschichten und Träume sind dazu da, uns zu leiten und zu inspirieren. Sie müssen nicht überall verbreitet werden, um ihre Magie zu bewahren. Sie gehören zu uns und geben uns Kraft.«
Fritz nickt und fügt hinzu: »Und weißt du, was noch faszinierender ist? Jedes Jahr, wenn der Nebel von der Förde aufsteigt und die Grenze zu Dänemark in der Ferne verschwindet, soll es einen Moment geben, in dem sich die Schleier der Realität heben. Man sagt, in diesen Momenten könnten die Fördepiraten über die Grenze nach Dänemark ziehen, in ein Land voller mythischer Wesen und geheimnisvoller Wälder.«
Gertrud ergänzt: »In den Geschichten, die wir hörten, sprach man von Trollen und Elfen, die in den dänischen Wäldern lebten. Die Fördepiraten sollen oft mit ihnen verhandelt haben, um Träume zu stehlen und Wünsche zu erfüllen. Diese Wesen waren nicht immer freundlich, aber die Fördepiraten hatten das Vertrauen und die Fähigkeiten, um mit ihnen umzugehen.«
Emma, tief beeindruckt, fragt leise: »Oma, Opa, meint ihr, dass diese Geschichten wahr sind? Könnte es wirklich so einen magischen Ort in Dänemark geben?«
Fritz lächelt weise. »Das wissen nur diejenigen, die bereit sind, daran zu glauben und sich auf die Suche zu machen. Manchmal, Emma, sind die größten Wahrheiten in den unerwartetsten Geschichten versteckt.«
Gertrud schließt die Augen, als würde sie die fernen Geschichten noch einmal durchleben. »Und vielleicht, nur vielleicht, werden auch wir eines Tages die Grenze überschreiten und sehen, was jenseits des Nebels liegt.«
Die Familie verbringt den restlichen Nachmittag damit, mehr über die geheimnisvollen Fördepiraten und das mythische Dänemark zu sprechen. Die Sonne versinkt über dem Flensburger Hafen, und die Magie ihrer Erzählungen liegt schwer in der Luft. Es ist ein Moment der Rührung und des Zusammenhalts, der ihnen zeigt, dass die wahren Schätze des Lebens in den Herzen und Geschichten der Familie liegen.
Am Abend, als die Dämmerung über Flensburg hereinbricht, erzählt Fritz von einem weiteren Traum, den er kürzlich hatte. »Ich träumte, dass wir alle zusammen an der Flensburger Förde standen, und die Fördepiraten uns ein Lied spielten. In diesem Lied hörte ich deine Stimme, Emma, wie du von deinen eigenen Träumen und Hoffnungen sangst. Es war, als ob die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander verschmolzen und uns zeigte, dass wir nie allein sind.«
Gertrud nimmt Fritz' Hand und lächelt Emma an. »Die Fördepiraten mögen vielleicht nicht mehr physisch existieren, aber ihre Magie lebt in unseren Herzen weiter. Und diese Magie wird auch dich begleiten, Emma, auf all deinen Wegen.«
Emma schmiegt sich an ihre Großeltern und spürt die Wärme ihrer Liebe und Weisheit. In diesem Moment erkennt sie, dass die wahren Schätze des Lebens in den Erinnerungen und Geschichten ihrer Familie liegen – und in den Träumen, die sie gemeinsam teilen.
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