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voice recorder schrieb am 22.1. 2003 um 17:59:27 Uhr über

Collage

bei der Schauspieler und Sänger über aktuelle Themen improvisieren. Das kann über Stunden gehen, wobei die Straßenpassanten nicht nur Kommentare abgeben, sondern auch mitmachen. Ähnliches gilt für die großen Umzüge der Sambaschulen während des Karnevals. In Brasilien hatte der Karneval schon immer eine Ventilfunktion: drei Tage lang darf man gegen Sitten und Gesetze verstoßen, um dann wieder in den Schoß von Ordnung und Gesetz zurückzukehren. Berühmte Sambaschulen werden von der Regierung subventioniert, eine »Großzügigkeit«, die als Gegenleistung Selbstzensur in der Auswahl und Darbietung von Themen sowie die Glorifizierung der Geschichte Brasiliens verlangt. Die den »Fortschritt« besingen, sind die Ausgehungerten@ deren Ausbeutung - Ausbeutung ihrer Arbeitskraft - den »Fortschritt« erst möglich macht. Es gab aber Protest-Sambas, die noch i964- i965 ihre Premiere in populären Restaurants wie »Zi Cartola« erlebten.


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In Säo Paulo veranstalteten wir einen »Meinungsjahrmarkt« (Feira Paulista de Opinläo). Wir baten Dramatiker, Komponisten und bildende Künstler, ihre Ansicht über die Diktatur zu formulieren. Das Schauspiel wurde zu einer Gerichtsverhandlung. Angeklagt war der Staat Säo Paulo. Damals wurde eine solche Aufführung noch gestattet, auch wenn wir die Genehmigung über einen Gerichtsbeschluß erwirken mußten.
jeder der Mitwirkenden bekundete mit seinem Beitrag (Theaterszene, Chanson, Bild, Plastik) seine Meinung über das Brasilien von i 968. Der eine berichtete von einem Fischer, der verhaf tet worden war, weil er als einziger im Dorf lesen konnte - Grund genug für die Behörden, ihm zu mißtrauen. Eine andere Szene zeigte Polizeibeamte beim Zensieren eines Theaterstücks. Eine dritte Szene schilderte das Elend in der Provinz. Mit der meinungsbildenden Macht der Medien befaßte sich ein weiterer Beitrag. Eine Collaze aus Texten von Fidel Castro und Che Guevara hatte den duerillakrieg zum Gegenstand. Solches Theater ist, wie man sich denken kann' nur in Augenblicken relativer Liberalität möglich. Kurz darauf, im Dezember i968, fand der zweite faschistische Militärputsch statt.

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Volkstheater erfaßt diethemen stets aus dererfahrungsperspektive des Volkes. Es müssen nicht unbedingt politische Themen sein. Alles, was die Menschen bet?ifft, kann zum Suiet werden: Volkstheater ist keine Frage des Themas, sondern der Perspektive. Ich wende mich allerdings gegen psychologisierendes Theater, weil es die Gesellschaft aus der Sicht nur einer Person deutet und durch Einfühlung diese subjektive Sicht auf den Zuschauer überträgt. Diese Übermittlung von Subjektivität verhindert die Erkenntn's der Wirklichkeit. Ich bin nicht gegen das psychologische Theater, sondern gegen die Art und Weise, wie es Inhalte darstellt. Während das bourgeoise Theater den Menschen als kommunikationsunfähig behauptet, zeigt die Perspektive des Volkes, daß zwischen Menschen immer Kommunikation stattfindet, selbst dann, wenn den Herrschenden daran gelegen ist, diese Kommunikation zu unterbinden.
Das bourgeoise brasilianische Theater spielt fast durchweg Boulevardstücke nach Broadway-Vorbild, also das, was, ebenso wie die meisten Fernsehserlen und Filme made in USA, als volkstümelndes, im Kern verdummendes Theater bezeichnet werden kann. Um der Bevölkerung ihre Ideologie einzuflößen, gebrauchen diejenigen, die den Kulturbetrieb kontrollieren, hauptsächlich zwei Methoden.
Sie klammern die für die Gesellschaft wirklich wichtigen Themen aus und beschränken sich auf die »Privatsphäre«, den Mikrokosmos des Zuschauers. Dem Zuschauer, durch Einfühlung zum Stillhalten veranlaßt, führt man die Gesellschaft aus der privaten Perspektive einiger weniger Personen vor, deren Probleme sich ausschließlich mit privaten Mitteln lösen lassen: Trunksucht als Folge von Beziehungsschwierigkeiten, Homosexualität als Ergebnis fehlender Elternliebe, Neurosen. Natürlich siegen in solchen Stücken zu guter Letzt die herkömmlichen Moralvorstellungen, »Laster« und »Sünde« werden bestraft. Gleichzeitig werden Eigenschaften und Ideen aufgewertet, die garantieren, daß alles beim alten bleibt, nichts sich ändert, z. B. der Gehorsam von Dienstboten, die häuslichen Tugenden der Frau, die Gutmütigkeit des Bauern usw.
Wie ich schon sagte, die Gegenwart des Volkes genügt nicht, damit eine Aufführung als Volkstheater gelten kann. Auch wenn das Volk der Adressat ist und das Spektakel im Zirkus oder auf dem Marktplatz stattfindet, ist das Volk in Wirklichkeit das Opfer.

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