Die orbitale Beschleunigung: Chronopolitik
Die Ägypter bauten Jahrtausende an ihren Tempeln, an den Domen wurde noch hundert Jahre gebaut, heute braucht man für ein Museum oder eine Kirche höchstens noch ein paar Jahre. Diese Beschleunigung des Bauens hat mit jenem Wechsel zu tun, den Paul Virilio den Wechsel von der Geopolitik zur Chronopolitik nannte. Terrorismus ist die beschleunigte Chronopolitik der Krieges. Diese Beschleunigung evoziert aber auch die Ahnung von einer Verlangsamung. Eine verlangsamte Phantasie kann sich vorstellen, daß wir wiederum Jahrtausende an unseren Städten bauen, nur diesmal im All. Das orbitale Zeitalter ist ein Zeitalter der Beschleunigung.
Diese Beschleunigung betrifft fast alle Bereiche der Gesellschaft wie Transportation, Bildung etc. Durch die beschleunigte Kommunikation, auf der Ebene der Information wie auf der Ebene des Transports gleichermaßen, ist unser Planet geschrumpft. Wofür wir früher noch Monate und Wochen brauchten, nämlich um von Europa nach Amerika oder Asien zu kommen, dafür brauchen wir heute nur mehr wenige Stunden. Desgleichen werden die zeitlichen Abstände zwischen wichtigen Entfernungen immer geringer. Siehe die Entwicklung vom Transistor (1947) zum Integrated Circuit um 1960. Wir können sagen, daß die Geschwindigkeit des Wechsels in der gegenwärtigen Gesellschaft exponentiell beschleunigt zunimmt. An den Intervallen zwischen der Entdeckung und der physikalischen Umsetzung unserer technologischen Mittel selbst können wir die se Geschwindigkeit des Wechsels ablesen. In der Fotografie hat es noch 112 Jahre, beim Telefon noch 56 Jahre, beim Radio noch 35 Jahre, beim Radar noch 15 Jahre gedauert, um eine theoretische Erkenntnis in eine physikalische Anwendung umzuwandeln. Bei der Atombombe nur mehr sechs Jahre und bei den Fortschritten in der Mikroelektronik nur mehr eineinhalb Jahre. Das gleiche ist bei der Bevölkerungszunahme zu beobachten. Bis zur Mitte [50|51] des 19.Jahrhunderts hat die Menschheit gebraucht, um die erste Milliarde an Menschen zu erreichen. 1930 hat die Weltbevölkerung bereits die zweite Milliarde erreicht, nur 80 Jahre später. Und nur 30 Jahre später, 1960, hatten wir bereits die dritte Milliarde erreicht. Und nur 15 Jahre später, 1975, hatten wir bereits die vierte Milliarde. Es ist zu erwarten, daß wir in 50 Jahren acht Milliarden Menschen haben werden, das heißt, in den letzten 200 Jahren hat sich denn die Erdbevölkerung verachtfacht. Die Konflikte, die daraus entstehen werden, innerhalb einer Nation, aber auch zwischen den Nationen und Kontinenten, sind voraussehbar. Es wäre allerdings ursächlich falsch, dieses exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung getrennt vom exponentiellen Wachstum der Technologie zu sehen. Das Gegenteil ist wahr. Innerhalb dieses technologischen Wachstums, dieser technologischen Beschleunigung, spielt die Computerkultur eine besondere Rolle, denn sie ist Teil der dritten Kommunikationsrevolution, welche die Grundlage des orbitalen Zeitalters bildet. War die Erfindung der Schrift vor zirka 5000 Jahren die erste Kommunikationsrevolution, weil hier erstmals die direkte Kommunikation zwischen Personen verlassen wurde, die bis dahin einzige Möglichkeit der Kommunikation. Mit Hilfe der Schrift konnten räumliche und zeitliche Distanzen überwunden werden. Vergangene Ereignisse konnten [51|52] aufbewahrt werden und an spätere oder woanders lebende Personen weitergeliefert werden. Entkörperlichte Information konnte in Raum und Zeit herumgeschoben werden. Die zweite Kommunikationsrevolution stellte die Erfindung des Buchdrucks vor zirka 500 Jahren das. Was die Schrift für die individuelle Kommunikation geleistet hat, wurde nun für die Massenkommunikation möglich. Der Druck führt die Massenkommunikation ein. Die Symbolisation von Botschaften durch elektromagnetische Felder, wie sie vor zirka 150 Jahren durch das Telefon eingeführt wurde, welche die Grundlage für die elektronische Informationsverarbeitung durch den Computer lieferte, wäre die dritte Kommunikationsrevolution.
Die Entkörperlichung der Botschaft hat nun weltweiten Rang erreicht. Ein Netzwerk von Computerterminals, Telefonen, Telexsystemen, Satelliten-TVs etc. haben ein neues orbitales Informationsenviromnent geschaffen.
aus: Weibel, Peter (Hrsg.) »Jenseits der Erde. Kunst, Kommunikation, Gesellschaft im orbitalen Zeitalter« - Wien (Hora-Verlag) 1987, S.33-52
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