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Spiegel schrieb am 25.7. 2015 um 18:23:05 Uhr über

Chaostage2003

Fast drei Jahrzehnte hatte Dirk Eisermann nichts mehr von ihnen gehört. Doch dann ließ ihn diese Frage plötzlich nicht mehr los: Was macht eigentlich der »Pisskopf« heute? Und die »Ratte«? »Conny von der Wildweiberfront« und all die anderen?

Um das herauszufinden, recherchierte Eisermann zweieinhalb Monate, sprach mit Sozialarbeitern, Kneipenbesitzern, Regionalzeitungen, verbrachte Stunden in Internetforen, flog nach London. Insgesamt 3500 Kilometer legte er zurück auf der Jagd nach Punks wie »Pisskopf«, von denen er nur die Spitznamen kannte.

Zuletzt hatte er sie im Juli 1983 gesehen, wie sie zusammen mit etwa 1200 anderen Punks mit Zebrahosen, Lederjacken, Nietengürteln und bunten Irokesenkämmen lärmend durch Hannover zogen. Sie kippten Dosenbier, streckten Fußgängern die Zunge raus, flohen vor der knüppelnden Polizei, zerschlugen Schaufenster und prügelten sich mit einigen der 300 Skins, die ebenfalls nach Hannover gekommen waren. Dirk Eisermann versuchte, ihnen mit der Kamera auf den Fersen zu bleiben.

Das Chaos aus der biederen Provinz

Kein einfacher Auftrag, selbst für einen erfahrenen Fotografen wie ihn, der sich auf Straßendemos zu Hause fühlte. Es gab keinen Zeitplan, keine zentrale Kundgebung, keine Reden. Nichts war organisiert, das einzige Programm war das gewollte Chaos: Polizisten in die Irre führen, vermeintliche Spießbürger provozieren, Angst und Abscheu erzeugen. Und die Verwirrungstaktik ging auf, nicht nur die Polizei fragte sich: Trafen sich da nur schmuddelige, aber harmlose Paradiesvögel? Oder würde gleich ein gewaltbereiter Mob zum Sturm aufs Rathaus blasen?

Drei Tage lang, vom 1. bis 3. Juli 1983, wurde Hannover von dieser Stimmung der Unsicherheit erfasst. Die sonst so bodenständige Landeshauptstadt verwandelte sich über Nacht zur Metropole der Anarchie - und schrieb Geschichte: Ausgerechnet im biederen Hannover begann die Tradition der Chaostage.

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Hier hatten Punks schon am 18. Dezember 1982 den ersten Chaostag ausgerufen, nachdem die örtliche Polizei begonnen hatte, systematisch die Daten dieser unangepassten Außenseiter zu sammeln, die sie offenbar für die neuen Linksterroristen hielt. Und hier gelangten die Punks ein halbes Jahr später mit ihrem zweiten Deutschlandtreffen erstmals ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit: Denn um das Durcheinander zu maximieren, hatten sie ihre Erzfeinde, die Skins, eingeladen - zur Verbrüderung gegen die Polizei. Ein soziales Experiment, das scheitern musste: »Sieg Heil«-Rufe erschallten, Steine flogen, Reporter kamen, unter ihnen Dirk Eisermann, dessen Fotos im Juli 1983 im SPIEGEL veröffentlicht wurden.

Emotionale Aufnahmen waren das, die wilde Jugendliche zeigten: Holger etwa, Spitzname »Fritz«, der dem Betrachter den Mittelfinger zeigt und trotzig seine pelzig-belegte Zunge entgegenstreckt. Oder Sven, Spitzname »Ratte«, der auf einem Bürgersteig liegend seiner weißen Ratte einen innigen Kuss gibt. Und Klaus erst, genannt »Igel«, der irgendwo eine benutzte Sexpuppe gefunden hatte und es witzig fand, ihr die Plastikbrust abzuschneiden, um sie sich wie eine Trophäe über die Lederjacke zu hängen. Hauptsache provozieren, mal derb, mal kreativ. Je verrohter und unausstehlicher die Punks nach außen wirkten, umso eher glaubten sie, dem Bürgertum seine Prüderie und Engstirnigkeit vorhalten zu können.

30 Jahre später sind die Punks aus den Schlagzeilen verschwunden und haben längst ihren Ruf als Bürgerschreck der Nation verloren. Einer der Väter der Chaostage von damals, Peter Altenburg, Rufname Karl Nagel, arbeitet heute als Softwareprogrammierer. Nimmt er sein gestreiftes Stirntuch ab, schimmert darunter eine Vollglatze - keine Spur von der einst hochgesprühten, grell gefärbten Haarpracht. Nagel ist verheiratet, hat eine Tochter und sagt Sätze wie diese: »Man kann nicht sein Leben lang rebellieren, ohne daran kaputtzugehen«. Oder: »Chaos lässt sich nicht ewig aufrechterhalten.«

Vorbei die Zeiten, als er aus reiner Verweigerungshaltung heraus über Nacht seine Ausbildung schmiss, biedere Wollpullis gegen Leder tauschte, sich einen langen Eisennagel um den Hals hängte und froh war, dass er schon an seinem ersten Tag als Punk »einen auf die Fresse« bekam: »Ein paar Stunden später hatte ich meine erste Freundin, das passte

Ratten und Randale

Neben ihm sitzt auf einer Holzbank am Hamburger Großneumarkt Dirk Eisermann, ein freundlicher Mann mit wohltemperierter Stimme, Halbglatze und Brille. Eisermann hat hier, neben einem Sushi-Restaurant und einem Griechen, sein Fotostudio. Es riecht nach gegrilltem Fleisch und geschmortem Gemüse, als die beiden Männer über Rebellion, Ratten und Randale fachsimpeln.

Nagel war es gewesen, der Eisermann und einen SPIEGEL-Autoren 1983 sicher durch das Chaos von Hannover lotste - und als Dank dafür wenig später Dutzende hochwertige Aufnahmen bekam, die er in einem Punk-Fanmagazin abdruckte. Und Nagel war es, der fast 30 Jahre später Eisermann anrief, um ihn zu fragen, ob er diese Bilder in sein Punk-Fotoarchiv ins Internet stellen dürfe. Wie sich die Zeiten geändert hatten: Der Normen-Brecher von einst erkundigt sich bei einem Fotografen brav nach Bildrechten, aus Angst, sonst »Ärger am Arsch« zu bekommen.

Nagel war offenbar nicht der Einzige, der sein Leben deutlich geändert hatte, das spürte Dirk Eisermann sofort nach dem überraschenden Anruf. Er stöberte in Internetforen. »Unter dem Foto eines wild dreinblickenden Punks entdeckte ich den Kommentar: 'Arbeitet der nicht heute in Frankfurt als Versicherungsvertreter?' Ich fand diesen Wandel faszinierendDas war die Initialzündung. Der Fotograf holte nun seine alten Aufnahmen heraus und machte sich auf die Suche nach den Lebensgechichten der Jugendlichen, die er einmal 1983 flüchtig getroffen hatte.

Karpfenfischer und Ordnungshüter

Eine mühselige Detektivarbeit. Einige Gesichter blieben namenlos, manche Ex-Punks wollten nicht mit ihm reden, von anderen gab es nur dubiose Spitznamen - »Pisskopf« etwa blieb unauffindbar. Nach monatelanger Recherche hatte Eisermann aber doch zwölf Alt-Punks gefunden, die nicht nur bereit waren, mit ihm zu reden - sondern sich sogar ein zweites Mal von ihm fotografieren ließen. Beeindruckende Porträts sind daraus entstanden, denn viele der Draufgänger von damals sind heute in der Mitte jenes Bürgertums angekommen, das sie früher bespuckt hatten.

Die »Ratte« etwa: Sven Olav Thater, Bildhauer in Ostfriesland, verheiratet, drei Kinder. Oder Conny, einst aktiv in der »Wildweiberfront:« Sie geht heute als Personalberaterin mit braver Kurzhaarfrisur und in adrettem Businessanzug zur Arbeit. »Die Conny«, schwärmt Alt-Punk Nagel noch heute, »war superhart drauf und konnte ordentlich zulangenSo wie Sven Brux, der 1983 mit einer Lederjacke durch Hannover lief, auf die er geschrieben hatte: »Trinken für den Frieden - Schwerter zu Zapfhähnen.« Heute ist Brux Vorsitzender des Verbandes Deutscher Karpfen-Angelclubs. Auch hauptberuflich hat er die Seiten gewechselt: Als Sicherheitschef beim FC St. Pauli muss er im Stadion nun Chaos bekämpfen und Ordnung erzwingen.

Von Brüchen in den Lebensbiografien möchte Fotograf Eisermann trotzdem nicht reden. Das klingt ihm zu hart, zu abrupt, für ihn ist es »kaum verwunderlich, im Alter bürgerlicher zu werden«. Und jene, die einfach so weitergemacht haben wie in ihrer Jugend? »Viele sind längst tot«, sagt Karl Nagel abrupt. »So einen Lebensstil hältst du nicht ewig durch

Manchmal ist den Alles-Verweigerern von damals ihre neue Spießigkeit allerdings unangenehm. »Johnny« zum Beispiel, seinen echten Namen möchte er nicht in den Medien lesen. Es gibt eine Aufnahme von ihm, wie er sich 1983 in Hannover eine blutende Platzwunde auf der Stirn zudrückt, während die Polizei seine Personalien für einen Flaschenwurf aufnimmt. Heute arbeitet er als Lackierer und wohnt bei seiner Mutter.

Die Wut des Punks

»Als ich ihn auf der Eckbank seines Wohnzimmers fotografieren wollte, hat er vorher noch schnell eine Kunstblume vom Tisch genommen und ein Sitzkissen weggelegt«, erzählt Eisermann. Insignien der Piefigkeit, die ihm offenbar immer noch suspekt sind. »Johnny«, glaubt Fotograf Eisermann, sei eine zerrissene Persönlichkeit. »Er lebt in einer ganz bürgerlichen Welt, verspürt in sich aber immer noch die Wut des Punks

Die Wut des Punks, sie mag auch bei Karl Nagel nachgelassen haben, auch wenn er sich immer noch als »Meister des Chaos« bezeichnet und in einer Punk-Band spielt. Ungebrochen ist aber seine Freude über desorientierte Polizisten. »Die Bullen hatten 1983 unglaubliche Probleme«, erzählt er begeistert und legt im Stakkatotempo nach: »Da gab es Punks, die haben einfach nur Eis gegessen. Oder in der Fußgängerzone rumgegammelt und gar nichts gemacht. Und anderswo ging es plötzlich richtig ab. Die Polizei war völlig überfordert, sie wusste nicht, wohin sie gehen musste. So viel Spaß hat es nie wieder gemacht

Bei späteren Chaostagen sei die Gewalt dann zu sehr eskaliert, und die Punks von heute, na ja, sagt Nagel, man müsse sich ja nur anschauen, wer ihre Maskottchen seien: Hunde statt Ratten. »Damit kannst du niemanden mehr provozieren

Dann steht er auf, verabschiedet sich bei Eisermann, der ihm ein Freund geworden ist, und freut sich, mit ihm bald wieder etwas zu trinken, einen Milchkaffee vielleicht.


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