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Dennis schrieb am 8.6. 2003 um 23:33:33 Uhr über

Carmen

Carmen
op.com. 3 Akte, 4 Bilder
Henri Meilhac, Ludovic Halévy, nach Prosper Mérimée, Rezitative von Ernest Guiraud
3. März. 1875 Paris, Opéra-Comique
Musik von Georges Bizet



Personen

Don Jose, Sergeant (Jugendlicher Heldentenor)
Escamillo, Stierfechter (Charakterbariton, auch Kavalierbariton)
Remendado (Tenor buffo) und Dancairo (Tenor buffo oder Baß buffo), Schmuggler
Zuniga, Leutnant (Charakterbaß, auch Seriöser Baß)
Morales, Leutnant (Lyrischer Bariton)
Carmen, Zigeunerin (Dramatischer Mezzosopran oder Dramatischer Alt, auch Dramatischer Sopran)
Micaela, Bauern mädchen (Lyrischer Sopran, auch Jugendlich-dramatischer Sopran)
Frasquita (Lyrischer Koloratursopran oder Soubrette) und Mercedes (Spielalt), Zigeunerinnen
Lillas Pastia, Schenkwirt (Stumm)

Chor

Eventuell Lillas Pastia. Soldaten, Zigarettenarbeiterinnen, Straßenjungen (Kinderchor), Zigeuner und Zigeunerinnen, Schmuggler,
Volk (Große Aufgaben)

Ballett

Tanz der Zigeunerinnen (2. Akt). Große Ballett-Einlage mit Musik aus Bizets »L'Arlesienne« undDas schöne Mädchen von
Perth" (4. Akt) (Große Aufgaben)

Orchester

2 Flöten (2. auch Kleine Flöte), 2 Oboen (2. auch Englisch Hörn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 5 Posaunen,
Pauken, Schlagzeug, Harte, Streicher
Bühnenmusik: 2 Trompeten, 5 Posaunen (aus dem Orchester zu besetzen)



HANDLUNG

Ort: Sevilla und Umgebung
Zeit: 1820

1. Akt Zigarrenfabrik in Sevilla, gegenüber die Wache. Soldaten schauen dem Treiben der Leute zu. Micaela, auf der Suche
nach dem Sergeanten José, entzieht sich den Annäherungsversuchen der Soldaten.Wachablösung; zur neuen Wache gehört auch
José. Die Zigarrenarbeiterinnen machen Mittagspause und kommen, von Galanen und Schaulustigen bereits erwartet,vor die
Fabrik. Carmen, die daran gewöhnt ist, daß man besonders ihr den Hof macht, wird auf den gleichgültigen José aufmerksam. Ein
Glockenzeichen ruft die Arbeiterinnen in die Fabrik zurück. Micaela bringt José einen Brief seiner Mutter, deren Wunsch es ist,
daß er Micaela heiratet. Aufruhr in der Fabrik: Im Streit hat Carmen einer Arbeiterin das Gesicht zerschnitten. Der Leutnant
Zuniga läßt Carmen verhaften; José soll sie ins Gefängnis bringen. Er ist bereits fasziniert und verwirrt. Carmen stellt ihm ein
Rendezvous bei Lillas Pastia in Aussicht. Er läßt sie entkommen und nimmt dafür eine Arreststrafe auf sich.
2. Akt Die Kneipe des Lillas Pastia vor der Stadtmauer, Absteige für die Schmuggler und Amüsierlokal für Soldaten und
Offiziere. Der gefeierte Torero Escamillo aus Granada, von seinen Bewunderern im Triumph durch die Stadt geführt, kehrt ein
und fesselt die Zuhörer mit einer Schilderung seiner Abenteuer in der Arena. Escamillo zieht weiter, mit ihm geht auch Leutnant
Zuniga. Die Schmuggler Dancairo und Remendado fordern Carmen und ihre Freundinnen Frasquita und Mercedes auf, ihnen bei
einer bevorstehenden Aktion die Zöllner vom Leibe zu halten. Carmen will jedoch nicht mitmachen. Sie wartet auf José, der
heute aus dem Arrest entlassen wurde. José kommt. Er liebt Carmen, ihre Faszinationskraft reicht aber nicht aus, ihn zur
Desertion und zum Eintritt in die Schmugglerbande zu überreden. Als José in dem zurückkehrenden Zuniga seinen Rivalen
erkennt, zieht er in Eifersucht die Waffe gegen seinen Vorgesetzten. Jetzt bleibt ihm kein anderer Ausweg, als sich den
Schmugglern anzuschließen.
3. Akt, 1. Bild Die Schmuggler schaffen nachts ihre Ware auf gefährlichen Wegen über das Gebirge. Carmen ist der Liebe
Josés bereits müde; ihre Gefühle gelten jetzt Escamillo. Frasquita, Mercedes und Carmen befragen die Karten nach der Zukunft;
Carmen liest aus ihnen immer nur baldigen Tod. Micaela ist José gefolgt. Sie wird Zeuge, wie Escamillo auf der Suche nach
Carmen von dem eifersüchtigen José überfallen und durch die dazwischentretende Carmen gerettet wird. Der Torero lädt alle zu
seinem nächsten Kampf nach Sevilla ein. Micaela bewegt José, ihr zu folgen: seine Mutter liege im Sterben.José droht Carmen,
er werde zurückkommen.
3. Akt, 2. Bild Vor der Arena von Sevilla. Fiebrige Erwartung der Bevölkerung. Die Stierkämpfer ziehen ein. Carmen folgt
Escamillo nicht in die Arena. Trotz der Warnungen ihrer Freundinnen wartet sie auf José. Dessen Bitten, ihr Leben mit ihm zu
teilen, schließlich seine Drohungen weist sie unberührt zurück. José tötet Carmen, während in der Arena Escamillo einen neuen
Sieg feiert.

WERK-UND WIEDERGABE

Der Hintergrund ist die Zehnzeilennotiz von einem spanischen Sergeanten, den sexuelle Hörigkeit vom Weg der Plicht lockt
und der als Mörder einer Zigeunerin endet. Der Opernfreund von heute kann sich kaum einen Begriff von der bestürzend
elementaren Wirkung des Carmen-Stoffes auf die Opernbesucher der Entstehungszeit des genialen Werkes machen. Das war
keine Oper einer Welt des schönen, glänzenden Scheins gesellschaftlicher Wohlanständigkeit, kein pseudo-romantisches
Rührstück um die Titelrolle, kein romantischer Kostumfest-Vamp mit allem Flitter eines abgründig-bestrickenden erotischen
Dämons. Nein, dasunmoralische Stück» von dem „schamlosen Weib« sucht bewußt die Realität eines spannungsgeladenen,
blutvollen und durchaus menschlichen Vorgangs mit schonungsloser Wahrheitsliebe auf die Musikbühne zu übertragen. Da
betreten einfache, bäuerische Menschen, Soldaten, Schmuggler, Zigeuner als alleinige Gestalten die Opernszene - ein erregender
Stoff, der den Kampf der Geschlechter, die schicksalhatte Leidenschaft einer unausweichbaren Liebe und die Geheimnisse des
Eros zum Inhalt hat. Die Handlung ist der Erzählung des Franzosen Prosper Merimee (1847) nachgestaltet, der sein zur Klasse
der „Historischen Novellen" gehörendes Prosastück wiederum nach dem Lebensbericht des baskischen Toreros Don José
Lizzarrabengoa, den er selbst im Gefängnis aufsuchte, schrieb. Sowohl ihm als auch der Zigeunerin Carmencita war der Dichter
bei seinen Forschungsreisen in die andalusischen Berge und nach Córdoba schon in früheren Jahren begegnet. Von der überaus
genauen Darstellung des Spaniens der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, wie sie die Novelle gibt, ist erfreulich viel in das
Opernbuch eingegangen. In einer von Mérimée übernommenen Dialogstelle heißt es: „ ... das Benehmen von Frauen und
Katzen, die nicht kommen, wenn man sie ruft, und die kommen, wenn man es nicht tutDas ist die „femme fatale« Carmen in
ihrem unberechenbar-verführerischen Wesen, ohne die es keine Salome, keine Turandot und keine Lulu auf der Opernbühne
gäbe.

Der Text. „Soeben hat man bei mir drei Akte für die Opéra Comique bestellt. Meilhac und Halévy verfertigen den Text", so
schrieb am 17. Juni 1872 Bizet, dessen Operneinakter „Djamileh" kurz vorher in Paris durchgefallen war. Ein ausgezeichneter
Text - fast könnte man ihn das Ideal eines dramatisch und dramaturgisch festgefügten Opernbuches nennen. In ihm haben die
beiden erfolgreichen französischen Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy die Handlung der erzählenden Form geschickt
auf das dramatisch Wirksame verdichtet, und zwar ohne Verzicht auf die herbe Stimmungskraft des literarischen Musters; heute
weiß man, daß Bizet viele Partien des Textes selbst schrieb oder sich zurechtlegte. Die Veränderungen gegenüber dem Urbild
muß man vorwiegend .in einer Korrektur der von Haus aus roher umrissenen Charaktere erkennen. So ist Carmen, wenn auch
ganz lockendes, boshaftes Eros, nicht mehr die skrupellose, gemeingefährliche Schmugglerin der Novelle, die Frau eines
einäugigen Gauners, so wie der töricht verliebte Soldat der Oper ein anderer ist als der hartgesottene Straßenräuber Mérimées.
Neben Jose wird in der Oper der in der Novelle nur knapp gezeichnete Stierkämpfer Lukas als Escamillo zur zweiten männlichen
Hauptfigur. Ganz neu als lyrischer Gegenpol der ungezügelten Carmen haben die Autoren die rührende Gestalt Micaelas
erfunden. Und stark realistisch ist nun der Schluß der Oper: der Mord an Carmen vollzieht sich nicht mehr in einsamer Gegend,
sondern vor der wirkungsvollen Kulisse der Stierkampfarena in dem Augenblick, da die Menge Escamillo zujubelt.

Die Musik überrennt den Hörer wie ein Naturereignis. Bizet hat dasCarmen»-Buch ursprünglich als „opéra comique«, als
Spieloper mit gesprochenem Dialog, komponiert. In Wahrheit istCarmen" jedoch der revolutionäre Bruch mit der comique. Daß
sie meist als „opéra lyrique» oder gar als romantischeGroße Oper« aufgefaßt wird, liegt an den von Bizets Studienfreund Ernest
Guiraud (der auch Offenbacbs „Hoffmann" bearbeitete und Lehrer Debussys war) später mit feinem Taktgefühl, unter
Verwendung Bizetscher melodischer Wendungen und harmonischer Formeln, hinzugefügten Rezitativen. Nietzsche, zeit seines
Lebens aufCarmen" eingeschworen, bezeichnete die Oper als einEpigramm auf die Leidenschaft, das Beste, was seit
Stendhal sur l'amour geschrieben wurde ... so stark, so leidenschaftlich, so anmutig und so südlich". Und in der Tat: in Bizets
Mittelmeermusik hat dieLiebe bunte Flügel". Sie schillert in allen Farben; ihre flammende Sinnlichkeit hat etwas Betörendes.
Obgleich es eine ausgesprochen südfranzösisch empfundene und ausgeformte Partitur ist, die südliches Feuer mit gallischem
Esprit verbindet, bei der, sieht man vom „prachtvollen Zirkuslärm» des Anfangs ab, alles aufzarten Füßen« läuft und die nie
schwitzt", hat Bizet das Lokalkolorit der in Spanien spielenden Handlung bezaubernd getroffen. So bei der als andalusische
Tanzweise erscheinenden und doch von Bizet frei erfundenen Seguidilla des erstenAktes „Draußen am Tor von Sevilla".
Auch die meist als spanisch angesehene Habanera (deren Text Bizet selbst verfaßte) ist kunstvoll in dies atmosphärisch dichte
Opernspanien eingefärbt; sie geht auf ein Lied des südamerikanischen Komponisten Yradier zurück. Nur mit zwei Weisen
verpflichtet sich die Musik notengetreu der nationalen Zigeunermusik Spaniens. Aber sie nutzt sie melodisch, harmonisch und
rhythmisch in meisterlicher Mischung von Naturkraft, Sensibilität und Raffinesse aus. Eine einzige Steigerung durchzieht das
Werk, das als Operette beginnt und als Tragödie endet, im Lyrischen (Arie der Micaela, Blumenarie Joses) wie im Dramatischen
(Torero-Lied, Finale) gleich fesselt, seine stärkste Blutkraft aber doch wohl bei den Carmen-Szenen (Schmuggler-Quintett,
Terzett und Kartenlegerinnen) offenbart. Jedem der Akte ist eine charakteristische Orchestereinleitung vorangeschickt. Der
tragische Grundton des Ganzen wird gleich mit dem „Schicksalsmotiv" des ersten Vorspiels angeschlagen. Es ist jenes gefährlich
drohende Motiv, das auch kurz vor Carmens grausigem Ende ertönt.

Werkgeschichte. Anfang 1873 scheint Bizet mit derCarmen" begonnen zu haben. Ein großer Teil des Werkes war bereits
vertont, als sich Bizet wegen verschiedener Schwierigkeiten mit der Opéra Comique zunächst einer anderen Oper, demDon
Rodrigue», zuwandte. Erst im Sommer 1874 nahm er nach schwerer Krankheit wieder die Arbeit anCarmen« auf, die er in
kurzer Zeit vollendete; die umfangreiche Partitur wurde in zwei Monaten instrumentiert. Die ursprünglich noch für den Herbst
geplante Uraufführung wurde verschoben, weil der kurz darauf demissionierende de Leuven immer neue Einwände gegen den
Stoff erhob. Am Tage vor der Uraufführung in der Opéra Comique in Paris fand, wie üblich, die Generalprobe vor einem Parkett
von Künstlern und Kritikern statt; und der Protest des vom nackten Realismus des Finales schockierten bürgerlichen Auditoriums
war so groß, daß der verzweifelte Komponist beinahe noch dem Drängeln der Librettisten nach einem unmöglichen Happy-End
nachgegeben hätte. Zum Glück scheiterte dies auch an der vernünftigen Haltung der Sänger. Die Premiere am 5. März 1875
hatte trotz einer idealen Vertreterin der Titelpartie geringen Erfolg. Der erste Akt fand noch Beifall; aber dann wurde das
Publikum immer zurückhaltender, und nach dem mit eisiger Kühle aufgenommenen vierten Akt blieb die Bühne leer ... Bizet
verließ heimlich das Theater und irrte bis zum Morgengrauen planlos durch Paris. Das Gesamturteil der Pariser Opernfreunde
wie der Presse: „Wie wahr, aber wie anstößigImmerhin hatCarmen« in Paris zunächst eine Serie von 45 Aufführungen
erlebt, die auch nicht unterbrochen wurde, als ihr Schöpfer drei Monate nach jenemschwarzen" Tag starb. Seine letzte Freude
war die Unterzeichnung eines Vertrages mit
der Wiener Hofoper, der die Erstaufführung in deutscher Sprache festlegte: in Wien errang das Werk am 25. Oktober 1875
einen Triumph, der seinen Weltruhm begründete. Zweifellos haben daran die nachkomponierten Rezitative Guirauds und das aus
Bizets „Schönem Mädchen von Perth»und «L'Arlesienne" zusammengestellte Ballett des bisher etwas sprunghaften Schlußaktes
Anteil; hingegen wirkte an der Handlung nun manches verkürzt und simplifiziert. Viel folgenschwerer war, daß die Übersetzung,
die der Operettenkomponist Julius Hopp (unter dem Pseudonym D. Louis) in höchster Eile für die Wiener Aufführung
zurechtschusterte, von nun an den meisten deutschsprachigen Wiedergaben zugrunde liegt; auch die verbesserten
Textfassungen von Brecher, Carmen Studer, Weingartner, Helene Orthmann u. a. haben hier nichts Wesentliches ändern
können. Als Hans Gregor 1906 an der Berliner Komischen Oper den Versuch unternahm, auf die realistisch schärfere
Konzeption der Urfassung zurückzugehen, erhob einer der Librettisten, Halévy, heftigen Einspruch - und das, obgleich das Werk
in Paris seit jeher (bis 1959 nahezu 3000mal) in dieser Form gespielt worden ist. Kein Geringerer als Stanislawski wandte sich
gegen die „opernhafte» Behandlung derCarmen«. (Seine Moskauer Inszenierung zeigte Soldaten in zerschlissenen Uniformen
und lebensechte Tabakarbeiterinnen.) In neuerer Zeit haben Walter Felsenstein (1955 Köln und 1959 Zürich), Clemens Krauß
(1956 München) und Wieland Wagner (1959 Hamburg) ebenfalls wieder der Original-„Carmen" ohne Rezitative und
Tanzeinlagen Geltung verschafft. Noch weiter gingen Felsenstein (1959 Berliner Komische Oper) mit neu übersetzten
Gesangstexten sowie Heinrich Strobel und Pierre Stoll bei ihrer Revision des Urtextes (1961 Köln), die nicht nur alle fremden
Zusätze der Partitur beseitigt, sondern auch mehrere kleine Striche wieder aufmacht; die Nummer II (eine Szene des Moralès
mit Pantomime) wurde dabei aus dem Klavierauszug instrumentiert. 1964 veröffentlichte Fritz Oeser eine Neuausgabe der
Rezitativ-Fassung, die alle neuen Erkenntnisse berücksichtigt.

Bühnenpraxis. Das Werk beansprucht vier Bühnenbilder. Orchestervorspiele vor jedem Akt. 27 Musiknummern und
gesprochener Dialog oder nachkomponierte Orchester-Rezitative. Dauer der Rezitativ-Fassung: 1. Akt (50 Min.), 2. Akt (40
Min.), 3. Akt (50 Min.), 4. Akt (20 Min.); Gesamt: 2 Stunden 20 Min.

Bemerkungen. Die Frage, ob manCarmen" in der Urform oder in der Bearbeitung Guirauds spielen soll, wird von der
Konzeption der verantwortlichen künstlerischen Leiter der Neuaufführung abhängen. Sicher läßt sich die Forderung nach einer
wahren, dem konventionellen Operntheater entzogenen „Camen" in beiderlei Gestalt erfüllen - keine romantischetragische
Operette", kein veristisches Spektakelstück oder Musikdrama, sondern ein vitales, sinnbetörendes Volksdrama menschlicher
Leidenschaften im Umkreis von Goya und Lorca. Unumgänglich ist nur eine gründliche Revision des anscheinend unausrottbaren
Textes von Hopp, dessen Escamillo z. B. beim Torero-Lied die folgenden Verse radebrecht: „Wenn auch Gefahren dräu'n, sei
wohl bedacht, daß ein Aug' dich bewacht". Für das Original, dessen umfangreiche Dialoge überzeugende Sprecher verlangen,
empfiehlt sich die Felsenstein-Fassung. Die Titelrolle, der Bizet neben der originalen Sopranform auch die ungleich
wirkungsvollere Einrichtung für Mezzo gab, bedarf eines singenden Menschen von starker erotischer Faszination und einer
„sonderbaren wilden Schönheit" (Stanislawski). José ist kein primitives, schuldlos verstricktes Opfer, mehr Rekrut als Feldwebel,
als den man ihn meist sieht; er ist ein Mann jähen Temperamentes, der aufbegehrt. Der Strich des Duetts José-Escamillo vor
dem dritten Finale erscheint vertretbar; das Ballett gehört nicht unbedingt zur zweiten Opernfassung. Bezeichnenderweise
erreichteCarmen" bei einer neueren Umfrage nach der beliebtesten Oper in aller Welt die meisten Stimmen.

[Ernst Krause, Oper von A - Z, Leipzig 1962]



In ein paar gesprochenen Zeilen in Carmen (die überall außer in Paris wegfallen, weil überall die nach Bizets Tod von Guiraud
hinzugefügten Rezitative den gesprochenen Dialog verdrängen, wodurch Carmen zu einer großen Oper verfälscht wird, was gar
nicht in Bizets Sinn ist!) heißt es mit den Worten Mérimées: »... das Benehmen von Frauen und Katzen, die nicht kommen,
wenn man sie ruft, und die kommen, wenn man es nicht tut...« Diesen weiblichen Wesenszug und seine Wirkung auf die
Opfer musikalisch auszudeuten, gelang Bizet in vollendetem Maße. Um Carmens Vitalität und ihren betörenden Reiz auf José
auf der Bühne darzustellen, war es nötig, verschiedene gegensätzliche Charaktere in ihrer Entwicklung darzustellen, die in
Mérimées Roman nur angedeutet sind. Man hat bemängelt, daß Micaëla und Escamillo in das Libretto eingefügt worden sind.
Aber ohne Micaëlas Unschuld und Escamillos normales Verhalten konnte die fortschreitende Entartung des José vom biederen
bäuerischen Soldaten zum Räuber und Mörder nicht sichtbar gemacht werden. An der Neueinführung dieser Gestalten wie an
vielem anderen zeigt sich die Entschiedenheit von Bizets Künstlertum. Carmen bedeutet den revolutionären Bruch mit der opéra
comique. Die Heldin - von Anfang an unmoralisch, der Held - von einer Stufe zur andern absinkend, der Dichter, der nirgends
eine Moral aufzeigt: alles das entsetzte die Theaterdir. derart, daß sie auf jede Weise eine Änderung des Librettos zu erreichen
suchten. Vor allem wünschten sie ein gutes Ende. Selbst die Librettisten waren zu Konzessionen geneigt. Aber Bizet, der viele
Teile des Libretto selbst schrieb oder neu schrieb, wie z.B. die ganze Habanera, ließ sich keinen Kompromiß abzwingen.

Von der Carmen-Musik ist vieles so allgemein bekannt, daß es schwierig ist, es in seinen eigentlichen Zusammenhang zu rücken.
Das Lied des Toreador ist als »banal« bezeichnet worden; aber die Banalität liegt ja gerade in dem Charakter des Escamillo,
eines erfolgreichen »Sportsmanns« und Herzensbrechers, den Bizet dadurch kennzeichnet, daß er ihn den Refrain »piano avec
fatuité« singen und pianissimo beenden läßt. Die Habanera gehört untrennbar zu Carmens Gesamtcharakter und zeigt sie von
Anfang an als katzenartig und launisch, verführerisch und grausam. Die Musik Micaëlas und Escamillos ist weniger
spannunggeladen; aber die eigentliche künstlerische Rechtfertigung beider liegt im Finale des 3. Akts, wo die für alle
Hauptpersonen bezeichnende Musik zu einem der erregendsten und hinreißendsten Ensembles der gesamten Opernliteratur
zusammengefaßt wird. Die Szene ist so geladen mit widerstreitenden Gemütsbewegungen, daß der zehntaktige Orch.- Epilog uns
die Gefühle jeder Person genau verrät, ohne daß auch nur ein Takt davon vorher mit einer von ihnen verknüpft gewesen ist. Am
stärksten illustriert Bizets Meisterschaft der dramatischen Ironisierung wohl die Schlußszene, in der die Musik des Stierkampfs
Carmen zu immer weiter gesteigertem Hohn und José zu ihrer und seiner eigenen Vernichtung treibt. José hat nichts von einem
liebeskranken Tenor an sich, er ist eine feine Studie der Wirkungen einer unbändigen Leidenschaft auf eine gesunde, aber
schwache Natur. Melodien, die im Anfang des Stückes mit Carmen, Micaëla und Escamillo verbunden sind, tauchen im weiteren
Verlauf häufig wieder auf; die des José tun das nie. Die Wandlung seines Charakters läßt kein einziges musikalisches Motiv
durchgehend als zu ihm passend erscheinen. Carmen aber, trotz aller ihrer flüchtig wechselnden Launen, wandelt sich als
Charakter nicht. Sie ist die »femme fatale«, sich selbst und denen, die sie lieben, in gleicher Weise Verderben bringend und von
Anfang an ihrer Macht bewußt. Gleichzeitig Schurkin und Heldin des Stückes, bildet sie einen neuen Typus in der Oper, nach
dem die Salome, Elektra und Turandot geformt sind. Aber Bizets Verismus ist - im Gegensatz zu dem seiner Nachf. - stets eine
Verfeinerung des Lebens, nie eine Nachahmung. Eine oder zwei Episoden in Carmen, vor allem das Vorspiel zum letzten Akt
und der Zigeunertanz im 2. Akt, sind so sehr mit dem Geist span. Zigeunermusik durchtränkt, daß manche Hörer das für Bizets
eigentliche Domäne gehalten und die übrige Musik als ihrem Wesen nach frz. getadelt haben. Das ist aber ein großer Irrtum.
Bizet hat in Carmen zwei span. Weisen verwendet, und die Habanera ist die Umformung eines Liedes von dem span.-
amerikanischen Komp. Yradier. Bizet verfolgte damit nur das Ziel, einen möglichst farbigen Hintergrund für das Geschehen zu
entwerfen. Hätte er die ganze Oper aus span. Material aufgebaut, so würde der Hintergrund wohl sicher die Gestalten erdrückt
haben. In Spanien gilt das Vorspiel zum 4. Akt als echt span. - aber Bizets ureigene Schöpfungen wie z.B. die Seguidilla
beschwören die Atmosphäre genau so wirkungsvoll. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die meisterhafte Feinheit und Vielfalt
der Instrumentation der Carmen zu erörtern. Wie ihre Melodienfülle die Oper zu einem Liebling des breiten Publikums gemacht
hat, so wurde sie aus anderen Gründen von so grundverschiedenen Komp. wie Brahms und Wagner, Gounod und Wolf,
Tschaikowsky und Busoni, Debussy und Saint-Saëns, Puccini und Strawinsky hoch geschätzt. Im ganzen 19. Jh. hat kaum einer
das dramatische Problem so anzupacken verstanden wie Bizet. Er schrieb mit visionärer Objektivität. Seine Gestalten können das
Publikum unmittelbar packen. Die Shakespearesche Freiheit von moralischen Vorurteilen war das gerade Gegenteil von der Art
und Weise Wagners. Das sah Nietzsche so deutlich, der die Carmen als persönliches Gegengift gegen Wagner gebrauchte.
Dieses Fehlen eines einseitigen moralischen Urteils und die wunderbare Harmonie zwischen großem Drama und großer
Kompos. machen Carmen zu einem zeitlosen Meisterwerk.

[Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bärenreiter-Verlag 1986]



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