Abschied mit Duftsteinaroma*
Vorkapitelchen
In den frühen Morgenstunden, als die Amseln das Grau des erwachenden Tages beschimpften, fand er zum ersten Mal die Kraft, eine fokussierte halbe Stunde lang aus all den Zetteln, Listen, Akten, Dateien so etwas wie ein Bild zu formen, die durcheinanderrieselnden Zahlen und Buchstaben zu einer nebelhaften Luftspiegelung zusammenzusetzen, eine morganatische Stadt am Ende aller Tränen, die einzelnen Bausteine des gerade abgelaufenen und des beginnenden Lebens zu einem ersten, vorsichtigen Rohbau auf dem Schnürboden seines verlassenen Palastes zu formen —
irgendwann hatte er genug gesehen. Er begriff: All die Jahre hindurch, sorgsam vor ihm verborgen gehalten, waren die Dinge zu einem einzigen Ziel gebündelt worden: Ihm, dem Träumer, nach diesem ersten letzten schmerzvollen Erwachen jenen Traum zurückzugeben, den er so lange gehegt und dann doch so bereitwillig geopfert hatte, doch in einer gleichsam veredelten Form und mit einer sanften Macht angetan, die seinen Entscheidungen künftig die so lange unklar vermisste Sicherheit geben würde. Er würde handeln müssen. Nein: Er würde nicht mehr handeln brauchen. Die Dinge hatten eine Eigenschwere bekommen, die seine gerade eben noch kurz vor dem Zerfließen stehende Welt umfangen würde.
Es war keine laute Freude in ihm, eher noch überwog nach wie vor die Müdigkeit. Aber er wollte reden, sich vor der Implosion bewahren. Es war früh morgens und da war keiner, dem er gewagt hätte, zu solcher Stunde sein von solch unermeßlicher Trauer durchzogenes Glück zu offenbaren. Der erste der ihm einfiel, war ein Exbanker aus einem Schreibforum, ein Gedanke, den er als bizarr und schwer durchführbar verwarf. Danach dachte er er daran, Doktor A* anzurufen. Ein unfähiger Seelenarzt schien ihm genau der Richtige, um die Facetten des Triumphs der duldenden Seele auszukosten, doch es überwogen bei ihm ganz andere Gefühle. Er wollte seinen Vermögensberater anrufen. Er hatte keinen Vermögensberater. Und er würde niemanden mehr brauchen, der ihn zur Mehrung peitschen wollte. Danach dachte er daran, in ein Bordell zu gehen, oder in etwas, für das ihm der Ausdruck 'Schenke' vorschwebte, wie jener Bierausschank im alten Sumer, in dem Gilgamesch sich die Trauer um Enkidu aus dem Kopf goss. War früher seine Zukunft im Nebel gewesen, so war es jetzt die gesamte gegenwärtige Welt, die ihm zu einem unwirklichen Schemen zerfloss über der Möglichkeit, sie von allen Seiten bezwingen, nein reiten zu können wie ein Mongole seinen störrischen Rappen. Schließlich fanden ihn die Stunden des erwachenden Innenstadtlärms in einem muffigen hölzernen Kasten vor, an dessen engvergitterter Öffnung er einem Pfaffen seine Lebensarien vorweinte, eine monologische Offenbarung all seiner glück– und leidvollen Fährnisse dieser vergangenen Jahre, für die er am Ende, mit der schalen Münze eines gemeinsamen Vaterunser entlohnt, seine nie begehrte Absolution erhielt und wieder in den nunmehr zur vollen, gleichwie bedeckten Helle erstarkten Tag zu treten. Von der Kirche aus lenkte er seinen Schritt zu einem ihm bekannten Abort an der Inselstraße, nur ein paar Schritte unweit des Standesamtes, in welchem nun das erste Kapitel unserer Geschichte beginnen soll.
* Dank an T*.
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