Der Besuch in O.
Eine merkwürdige Stadt war O., und sie hatte nie herausgefunden, ob das wirklich nur an der Stadt lag oder nicht vielmehr an ihm, der jeden Weg verwandelte, über den er ging, und hinter den Ecken und unter den Steinen ein Lachen hervorbrechen ließ, auch bei trübem Himmel, bei Sturm und peitschenden Regenfällen, die so häufig waren in der Ebene. Über das Haus der Margarethe von Parma hatten sie gelacht, weil es erst nicht zu finden war und dann so heruntergekommen aussah wie die Gebäude in den Armenvierteln der Hauptstadt. Ein Rathaus gab es, das schönste des Landes, dessen Bild sie später in ihr Tagebuch klebte unter der Überschrift „Stadt der Freundschaft“. Dann gab es natürlich einen Beginenhof, längst nicht so groß und niedlich wie der in K., der Stadt ihrer Ahnen, doch immerhin gab es auch in O. ein Gebäude, das von jenen starken und außergewöhnlichen Frauen zeugte. Und es gab einen dunklen Fluss, dessen Namen sie vergessen hatte, viele Straßen und noch mehr Häuser, wie es sich für eine Stadt gehörte. Sein Geburtshaus besichtigten sie ebenfalls, das moderne städtische Krankenhaus, wobei er leider vergessen hatte, in welchem Zimmer er zur Welt gekommen war.
Und er kutschierte sie in seinem Wagen durch die Stadt, über Brücken und durch Gassen, und Tracy Chapman sang ihre Mutlieder aus dem Kassettenrecorder und begann, sich mit ihr anzufreunden, und er, der Freund von damals und von jetzt, der alte und neue Freund, der wieder gefundene, erzählte und hörte und lachte und lebte. Leben. Das Leben war ihr in den letzten Monaten aus den Fingern geglitten und aus den Adern geronnen, und hier, in dieser Oase namens O., regte es sich wieder und begann, sachte mit den Flügeln zu schlagen. Der Mann, der ihr zuerst die Welt gewesen war und dann die Welt genommen hatte, war so fern wie der chronisch graue Himmel des Landes, der hier über O. nicht störte.
Nicht weit vom Gefängnis, hinter dem Fluss und einem amerikanischen Lieferwagen, war das Museum, das die Fäden des Lebens zeigte, die seit Jahrhunderten zu immer neuen Mustern und Bildern gewoben wurden, im Laufe der Zeit verblichen oder nachdunkelten. O. war berühmt für dieses Museum, in dem sich die Besucher verlieren und plötzlich, unerwartet, wieder finden konnten, in einer unscheinbaren Ecke eines der kostbaren Wandteppiche, und daraufhin manchmal begannen, die Fäden ihres eigenen Lebens neu zu verweben.
Der Haupteingang war verschlossen. Hinter dem Nebeneingang roch es nach Holz und Farbe, Arbeiter kratzten Tapeten ab oder verstrichen Putz, im Erdgeschoss und am oberen Ende der hölzernen Treppe.
Durch Räume mit Farbtöpfen und Werkzeugen und Bierdosen folgten sie dem Korridor bis zu einer halboffenen Tür. Dahinter saßen Menschen an Webstühlen. Ob sie sich umsehen dürften, fragte er in der Sprache seiner Stadt. Sie näherte sich einem Webstuhl und spähte der Weberin über die Schulter. Ein Wirrwarr von Fäden hing dort in den sicheren Banden der Kettfäden, abgerissen und wieder eingeflochten, wie es das Muster verlangte und die Hände der Weberin ausführten.
Doch das Licht strömte aus dem Holzregal an der Wand, in dem Wollknäuel auf ihre Stunde warteten, strahlend, strahlend, kräftig, frisch. Alle Farben der Stadt waren vor dem grauen Himmel in die Knäuel in diesem Regal geflohen, alle Farben des Lebens, die ihre Augen riefen und festhielten. Sie streckte ihre Hand aus und strich ehrfürchtig über das satte Grün und das leuchtende Orange. Gerne hätte sie einen Faden mitgenommen nach draußen und später zurück in ihre Welt, nur einen kleinen, groß genug, um ihn ums Handgelenk zu binden. Doch diese eindringlich bunten Knäuelchen gehörten den werdenden Wänden von O. und schenkten Besuchern wie ihr bloß einen Abdruck im Auge.
Und draußen, hinter Gesprächen und Brücken und Gassen und Glück, wartete das letzte Museum von O. auf sie, ein großer, nur wenig verfallener Bau. Auch hier war der Haupteingang verschlossen. Auch hier gab eine andere Tür nach und führte in eine kleine Eingangshalle.
Ein Weihnachtsbaum stand dort in der Ecke und starrte die Eindringlinge überrascht an, und das, obwohl Weihnachten längst vorbei war und die Weihnachtssterne dem chronisch grauen Himmel über der Ebene gewichen waren. Sie hängte sich einen Lamettafaden um und ging weiter.
Auch in diesem Museum sahen sie keine Ausstellungsräume. Auch hier führte eine schmale, hölzerne Stiege nach oben, immer weiter, immer höher, bis unters Dach. Und keine Menschenseele war da, niemand außer ihr und ihm. Und sie knipsten das Licht an und sahen.
Der Dachboden war ein riesiges Atelier. Mit staunend großen Augen gingen sie von Staffelei von Staffelei, beugten sich über Skizzen und halbfertige Gemälde. Hier freuten sich Vasen und Schalen voller Obst darauf, porträtiert zu werden, da bekam Mona Lisa eine weitere Zwillingsschwester, dort wurden bunte Tücher, natürlich mit Faltenwurf, in ein Bild gepackt. Sie berührte mit den Fingerspitzen eine Palette. Die Farben waren noch feucht und ließen ihre Fingerbeeren rot reifen. Den Schädel hingegen hatte er zuerst gesehen.
War es der Schädel eines Schafes oder eines Pferdes? Sie kannte sich nicht aus und beschloss daher, um des besseren Klanges willen, dass es sich nicht um einen Schafskopf, sondern um das Haupt eines Rosses handelte. Ein Opfertier.
Plötzlich sah sie sich um anderthalb Jahrzehnte zurückversetzt, an die bretonische Küste, wo sie in den Sommerferien eine Insel ganz für sich allein entdeckt hatte, mit felsigen Rändern und Gänseblümchen und zwei Trampelpfaden und mit langem, weichem Gras für die Fußsohlen, die bei Ebbe einen weiten Weg durch Watt und Priele und über seepockennarbigen Granit gekommen waren. Am Rande des Weges hatte als Meilenstein genau solch ein Schädel gelegen.
Und sie hörte wieder die Rufe der Möwen in ihren Ohren, und sie schmeckte Salz auf ihren Lippen, und der Wind zerzauste ihr Haar. Zugleich jung und alt, mit einem Weihnachtsfaden im Haar, legte sie ihre Hand auf den Pferdeschädel und schwor mit aller Kraft einen lauten, unhörbaren Schwur. Sie schwor bei allen Geistern des Himmels, der Erde, des Meeres und der Kunst, sie schwor auf die harten Knochen des toten Rosses: „Niemals, solange noch ein Atemzug in mir steckt, werde ich meine Freiheit einem Mann zum Opfer bringen!“
Als sie durch die leeren Augenhöhlen des Schädels blickte in diesem Dachbodenatelier in O., sah sie auf einmal in den runden, knochigen Rahmen den alten und neuen, den mehr als wieder gefundenen, ihren Freund aus der Oase der Lebensfreude ...
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