Es war ein ganz gewöhnlicher Mittwoch. Unser Pfarrer war auf einer Fortbildung, und so würde in unserer Gemeinde an diesem Tag keine Messe sein. Aber mir war danach, zum Gottesdienst zu gehen - das war es, war mir am besten gegen dieses Einsamkeitsgefühl half, das sich in den letzten Tagen wieder breit machte. Ich setzte mich am frühen Morgen ins Auto und fuhr in die Nachbargemeinde zur 7.30 h-Messe von Pater Gregor, den ich bisher nur vom Sehen kannte. Wunderlich sollte er sein, hieß es. Wunderlich - das kann viel heißen. Nun gut.
Natürlich waren nicht allzuviele Gläubige zu dieser Werktagsmesse versammelt - vielleicht fünfzehn, vorwiegend alte Frauen, aber auch einige junge; gerade mal zwei Männer waren da.
Der Gottesdienst begann. Pater Gregor zelebrierte sehr schlicht, aber mit großer Konzentration. Bei der Kommunion stellte ich überrascht fest, dass ausnahmslos alle an der Kommunionbank niederknieten und die Hostie in den Mund empfingen; also tat ich es ihnen nach. Ich war die letzte, die die Kommunion empfing. Es war ein eigenartiges Gefühl, das nach so langer Zeit wieder einmal auf diese altmodische Art zu tun. Und noch etwas war seltsam: Pater Gregor blieb vor mir stehen, bis ich aufgestanden war, neigte sich dann vor und flüsterte mir ins Ohr: »Der Herr wünscht, dass Sie zur heiligen Beichte gehen, ehe Sie ihn das nächste Mal empfangen.« Er sah mich freundlich an, nickte mir zu, ehe er sich umwandte und zum Altar zurück ging. Sein Blick schien mir durch und durch zu gehen, bis mitten in die Seele hinein.
Völlig verwirrt ging ich in meine Bank zurück. Was bildete der sich ein? »Der Herr wünscht...« - was sollte das? Und ich hatte doch erst vor kurzem gebeichtet. Wieso ausgerechnet ich? Warum sprach er mich an? Weil ich fremd war in seiner Gemeinde? Ich war empört und verunsichert zugleich. Es dauerte bis zum Segen, bis mein Herzklopfen sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Ich würde zu ihm gehen und fragen, was das denn solle. Was er sich erlaube.
Nach der Messe klopfte ich an der Sakristeitür. »Guten Morgen, ich habe ein paar Fragen...« Pater Gregor sah mich an, als hätte er mich erwartet. »Ja, selbstverständlich, ich bin gleich für Sie da. Bitte, setzen Sie sich doch und warten Sie einen Moment!« sagte er mit viel sagendem Seitenblick auf den Mesner, der noch mit dem Aufräumen beschäftigt war. Er selbst blätterte in den liturgischen Büchern, legte ihre Bänder zurecht für den nächsten Gottesdienst. Schließlich war der Mesner fertig, zog seine Jacke an, verabschiedete sich. Der Pater begleitete ihn zur Außentür. »Danke, Herr Wagner, bis morgen dann!« Und er schloss hinter dem Mesner ab.
»So«, sagte er, »kommen Sie.« Ich stand auf, erwartete, er werde mit mir durch die Kirche ins Pfarrhaus in sein Büro gehen. Aber er öffnete eine Tür, die ich für eine Schranktür gehalten hatte: es war eine Beichtstuhltür! »Bitte«, sagte er lächelnd; seine Hand wies einladend in den Beichtstuhl. »Aber... ich wollte... ich meine, ich wollte nicht...« - mehr bekam ich nicht heraus. Er aber schüttelte leicht den Kopf: »Nein. Kommen Sie.« Sein Blick schien wieder bis in die Tiefen meiner Seele zu gehen. Mein Widerstand brach zusammen. Es war, als müsste es so sein. Ich betrat den Beichtstuhl, kniete nieder. Was geschah hier mir mir?
Inzwischen hatte er die Tür hinter mir geschlossen, war selbst hinter der Nachbartür verschwunden. Durch das Gitter konnte ich sehen, wie er die violette Stola vom Haken nahm, küsste und umlegte und sich schließlich setzte.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen. Der Herr öffne dir die Augen deines Herzens, auf dass du dein Leben in seinem Lichte siehst, er schenke dir den Mut, deine Sünden zu erkennen, und die Demut, sie im Bekenntnis vor ihn zu tragen.« »Amen.« Ich war völlig verwirrt. Was sollte ich sagen? Bevor das Schweigen zu drückend wurde, begann er zu sprechen.
»Ich kann verstehen, dass Sie verwirrt sind und sich überrumpelt fühlen. Aber haben Sie Vertrauen, dass es gut so ist. Vergessen Sie mich, denken Sie nur an den Herrn. Seien Sie ganz offen.« »Ich will es versuchen.« »Gut. Es ist noch nicht lange her, dass Sie zuletzt gebeichtet haben, nicht wahr?« »Nein, etwa zehn Tage.« »Aber Sie haben nicht alles sagen können, nicht wahr?« »Nicht alles...?« »Schon gut. Nur eine Vermutung. Beginnen Sie einfach mit dem, was immer wieder da ist und auch in den letzten Tagen wieder aufgetaucht ist.«
Ich holte tief Luft und fing an, von den belasteten Beziehungen zu meinen Mitmenschen zu sprechen, von meiner Aggression und Gleichgültigkeit, meinem schnellen Urteilen über andere, der Geringschätzung, die ich manchen entgegen brachte und die ich sie auch immer wieder spüren ließ.
Ich stockte. Das war das, was ich zu beichten gewohnt war, das, was ich als Sünde in meinem Leben ansah. Und jetzt? Der Pater schwieg, als warte er noch auf etwas.
Nach einiger Zeit sagte ich: »Mehr weiß ich nicht.« Er nickte. »Gut. Das sind die Dinge, um die Sie wissen, wo Sie einsehen, dass das Sünde ist. Und da sind sie ja auch schon auf dem Weg der Heilung. Es ist ja auch schon vieles besser geworden in Ihrem Umfeld, nicht wahr? Da ist Gott schon am Werk, und Sie lassen es zu; darüber brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Aber Sie sind wegen etwas anderem hier.« Und er machte eine Pause, als müsse er nachdenken.
Wovon sprach er? War er wahnsinnig geworden oder ich? Zum ersten Mal spürte ich eine starken Impuls, zu gehen, zu flüchten, das Spiel nicht mehr mitzuspielen. Nur weg hier, weg!
»Lassen Sie sich nicht verführen! Bleiben Sie hier und halten Sie Ihre Wahrheit aus!« sagte er scharf. »Der Feind will Sie weglocken. Er will nicht, dass sie hier weiter gehen. Er will seine Macht über sie nicht verlieren. Und genau das wird jetzt geschehen. Lassen Sie nicht zu, dass er es verhindert! Bleiben Sie!« »Woher wissen Sie, dass ich grade daran dachte, zu gehen?« »Eine Art... Eingebung. Ich habe oft Eingebungen. Es ist schwer zu erklären. Ich hatte auch eine Eingebung, als ich Sie vorhin an der Kommunionbank knien sah, als ich Ihre Augen sah, als Sie die Kommunion empfingen. Deshalb habe ich Sie angesprochen. Ich habe gesehen -« Mir stockte der Atem. Ich war wie gelähmt vor Anspannung.
»Ich habe gesehen, wie Sie sich nach Reinheit sehnen. Nach Keuschheit.«
Keuschheit? Jetzt schien alles völlig absurd zu werden. Nein, um das Gerede der Kirche über Sexualität hatte ich mich nie gekümmert. Verklemmte zölibatäre Männer, die mir erzählen wollten, die Lust, die mir mein Körper bereitet, sei Sünde!
»Das ist völliger Unsinn, Pater. Entschuldigen Sie, aber das ist absolut schwachsinnig!« rief ich und stand auf. Ich hatte den Beichtstuhl schon fast verlassen, als ich ihn noch sagen hörte: »Bitte hören Sie mir noch einen Augenblick zu.« »Das hat keinen Sinn, Pater. Vergessen Sie's.« »Nur einen Moment. Bitte.« Ich zögerte. Ich wollte immer noch wissen, was dahinter steckte, was das alles zu bedeuten hatte. Und die seltsame Macht, die der Pater über mich gehabt zu haben schien, war ja nun gebrochen. Warum also nicht ihn anhören?
»Gut.« Ich kam in den Beichtstuhl zurück, blieb aber stehen.
»Ich kann verstehen, dass Sie aufgebracht sind. Ich habe eine Grenze überschritten, das ist mir sehr bewußt, und ich entschuldige mich bei Ihnen dafür. Ich habe auch gezögert, es zu tun, aber ich musste es. Verzeihen Sie mir. Ich weiß wohl, das ist ein Punkt, wo man sich nicht gern hinein reden lässt, und von einem Priester schon gar nicht. Auch sehr religiöse Menschen wie Sie nicht. Aber ich bitte Sie, sich nur kurz selbst eine Frage zu stellen und ehrlich zu sich selbst zu sein. Und entscheiden Sie dann, ob Sie gehen oder bleiben wollen. Sind Sie dazu bereit?«
Mir war unbehaglich. Aber ich war zu stolz zur Flucht. »Ja.«
»Wenn Sie sexuelle Lust erleben - gibt Ihnen das Erfüllung? Wirkliche Erfüllung?«
Wieder bäumte sich alles in mir auf. Er hatte kein Recht, das zu fragen! Aber ich hatte gesagt, ich sei bereit, mir die Frage zu stellen. Dazu würde ich stehen.
Ich versuchte, mir Situationen der Lust vorzustellen. Vorgestern morgen, als ich neben Frank aufgewacht war... wir hatten noch eine Weile geschmust, schließlich noch einmal lustvoll miteinander geschlafen, waren miteinander zum Höhepunkt gekommen; es war wunderschön gewesen. Doch schon wenige Sekunden später, noch bevor er aufstand und ging, war wieder die Leere dagewesen, die Traurigkeit, die Einsamkeit. Und obwohl ich mich danach gesehnt hatte, dass Frank ganz für mich da sein könnte und ich für ihn, dass wir unser ganzes Leben miteinander verbringen könnten, hatte ich doch gespürt, dass er und die Beziehung zu ihm mir nie würden geben können, nach was ich mich sehnte.
Und gestern abend - ich war müde und gestresst nach Hause gekommen, hatte mich in die Badewanne gelegt und irgendwann begonnen, mich zu streicheln und zu massieren und mit immer aufregenderen Phantasien zum Höhepunkt zu treiben. Ich war entspannt gewesen danach - und leer. Letzten Endes hatte ich mich in den Schlaf geweint, ohne zu wissen, warum. Situation nach Situation zog an mir vorbei - immer folgte auf die Lust die Leere, auf die Extase die Depression. Plötzlich merkte ich, dass ich weinte. Erst flossen die Tränen still über mein Gesicht, dann begann es tief aus mir heraus zu schluchzen. Ich konnte nicht mehr stehen, kniete nieder, stützte mein Gesicht in die Hände und weinte hemmungslos, ich weiß nicht, wie lange.
Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, hörte ich den Priester sagen: »Es ist gut. Zwingen Sie sich jetzt kein Bekenntnis ab, Sie müssen es jetzt nicht in Worte bringen. Lassen Sie das, was gerade in Ihnen hoch gekommen ist, einfach auf sich wirken. Da geht der Weg weiter. Eine Buße braucht es nicht, Ihre Tränen waren mehr als genug. Und ich darf Ihnen so die Vergebung und den Segen Gottes zusprechen...«
Ich nahm die Worte der Lossprechung kaum wahr. Sobald sie gesprochen waren, stand ich auf und ging durch die Kirche nach draußen, ohne Abschied, ohne Dankgebet. Ich setzte mich ins Auto und fuhr nach Hause. Es war halb zehn - mindestens eine Stunde hatte bei Pater Gregor im Beichtstuhl verbracht. Ich war völlig aufgelöst. Gott sei Dank mußte ich erst um zwölf Uhr arbeiten. Meine Gedanken rasten. Ich war noch nicht daheim, da hatte ich schon beschlossen, dass das alles kompletter Irrsinn gewesen war und ich mich davon nicht beeindrucken lassen würde. Nein, mein Leben würde so weitergehen wie bisher. So, wie ich bisher zufrieden gewesen war.
Am Abend kam Frank. Wir aßen miteinander zu Abend. Ich erzählte nichts von dem, was mir morgens passiert war; aber ich versuchte, ihm etwas von der Leere und der Einsamkeit zu erzählen, die mich immer wieder quälten. »Ach - Einsamkeit... du hast doch mich!«, sagte er und küsste mich. Er hatte mich nicht verstanden, er hatte es nicht einmal versucht, aber ich würde es jetzt nicht nochmal erklären. Wenig später lagen wir miteinander im Bett. Unser Sex war gut und ließ mich erstmal alles vergessen - doch als wir beide den Höhepunkt ausgekostet hatten und still neben einander lagen, spürte ich wieder, wie wenig es mich erfüllt hatte. Frank beugte sich noch einmal über mich, um mich zu küssen. »Du weinst ja - was hast du denn? Kriegst du deine Tage?« »Nein... Schon gut.« Er drehte sich um und schlief ein. Ich lag lange wach. Beim Frühstück machte ich Schluss.
Zwei Jahre hatte unsere Beziehung gedauert - und viel mehr als Sex war nicht gewesen. Guter Sex, ja. Aber das war zuwenig - jetzt war es mir zuwenig. Oder zuviel, wie man es nimmt.
Am Samstagnachmittag fuhr ich in die Stadt zur Franziskanerkirche und beichtete mein zwei Jahre dauerndes Verhältnis zu einem verheirateten Mann. Der Priester sagte fast nichts dazu und ließ mich zur Buße einen Psalm beten.
Mit der Selbstbefriedigung habe ich noch ein paar Monate weitergemacht. Dann habe ich von einem Tag auf den anderen beschlossen, damit aufzuhören. Ein, zwei »Rückfälle« gab es - dann war ich fertig damit. Ich staunte, dass es so leicht war. Auch die Selbstbefriedigung beichtete ich bei einem Franziskanerpater, der sehr bemüht war, mir klarzumachen, das sei doch ganz natürlich und gar nicht schlimm. Am Ende sprach er mich natürlich doch davon los.
Seit eineinhalb Jahren lebe ich jetzt völlig keusch. Ich bin zufriedener und glücklicher als je zuvor. Meine Beziehung zu Gott ist gewachsen und ersetzt mir alles, was ich mir von einer Partnerschaft wünschen könnte.
Meine Liebe zu den Menschen um mich herum ist gewachsen. Ich bin geduldiger mit anderen und mit mir selbst geworden. Ob das mit der Keuschheit zusammenhängt, vermag ich nicht zu sagen.
Pater Gregor habe ich nie wieder gesehen. Ich befürchtete, völlig unter seinen Einfluss zu geraten und alle Kontrolle zu verlieren, wenn ich öfter zu ihm ginge. Vor einem halben Jahr ist er ganz plötzlich gestorben.
Meine Umgebung merkt, dass sich etwas verändert hat. Vor zwei Wochen hörte ich zufällig auf einer Party, wie über mich gesprochen wurde. »Wer ist eigentlich die tolle Dunkelhaarige mit dem grünen Kleid?« fragte jemand. »Katharina, eine gute Freundin von uns«, sagte Martin, der Gastgeber, »Warum?« - »Sie ist - irgendwie besonders.«, sagte die fremde Männerstimme. Martin lachte. »Ja, das kann man wohl sagen. Ein strahlender Stern - und ebenso unerreichbar. Falls du sie schon in dein Bett träumst - vergiss es besser. Keine Chance.« »Ob du's glaubst oder nicht, Martin: der Gedanke hat sich mir sofort verboten. Ganz von selbst. Katharina: die Reine...«
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