Es waren die Leichen typischer Europäer, auf die Victor Mair starrte.
Sie hatten braune oder blonde Haare, große Nasen, längliche Köpfe und kaukasische Gesichtszüge.
Das Besondere: Die hervorragend erhaltenen Toten waren mehrere tausend Jahre alt.
Und: Sie waren in Asien, im Gebiet der heutigen nordwestchinesischen Provinz Xinjiang, gefunden worden - weitab von jenen Gebieten in denen Abkömmlinge der europäischen Rasse heutzutage verbreitet sind.
Victor Mair, Sinologe an der University of Pennsylvania, hatte solche europäisch wirkenden Mumien erstmals im Jahre 1987 bei einem Besuch des Museums von Wulumuqi, der Hauptstadt Xinjiangs, gesehen.
Die Frage, wer diese Leute waren und wie sie zu einer so frühen Zeit dorthin gekommen sein mochten, hatte ihn seither nicht losgelassen.
Im vergangenen Sommer ermöglichte es die politische Lage in China Mair erstmals, die Fundorte der konservierten Toten zu besuchen.
Zusammen mit dem italienischen Genetiker Paolo Francalacci und Xinjiangs~ bedeutendstem Archäologen Wang Binghua brach er zu einer anderthalbtägigen Tour mit dem Landrover auf, von Wulumuqi aus in Richtung Osten bis zu einem Dorf namens Wupu.
In dessen Nähe gab es einen sandigen Hang, den die Einheimischen Qizilchoqa (»kleiner, roter Hügel«) nannten, wo Wang Binghua bereits 1978 die ersten der ungewöhnlichen Mumien entdeckt hatte.
Dort legten die Forscher unter einer Sandschicht weitere Grabkammern frei, die mit Holzstämmen abgedeckt und von Schlammziegeln eingefaßt waren.
Mair war vom Anblick der meist auf dem Rücken in Hockstellung Bestatteten tief berührt: »Wenn man neben diesen perfekt erhaltenen Körpern steht, empfindet man plötzlich eine persönliche Nähe. Als wenn in diesen ausgetrockneten Körpern noch irgendwie Leben bestünde.«
Das trockene Klima der Wüstengegend mit Temperatursprüngen von mehr als 50 Grad zwischen Tag und Nacht hatte den Toten schnell das Wasser entzogen und sie ähnlich wie den 1991 in den Alpen gefundenen Gletschermann »Ötzi« konserviert.
Auf das Jahr 1200 v. Chr. datierten chinesische Wissenschaftler die Mumien von Qizilchoqa.
Andere, ähnliche Tote, die an insgesamt vier Orten zwischen dem Fuß des Tian-Gebirges und dem Rand der Takelamagan-Wüste gefunden wurden, waren zwischen 2000 und 300 Jahren v. Chr. bestattet worden.
Die Wissenschaftler legten insgesamt weit über 100 Mumien frei, denen sowohl das europäisch wirkende Aussehen als auch die Art ihrer Bekleidung gemeinsam ist: Wolle in leuchtenden Farben, Leder- oder Stoffmäntel, Filz- oder Lederstiefel an den Füßen.
An Dingen des täglichen Lebens fanden sich beispielsweise Töpferwaren, Holzkämme und knöcherne Nadeln.
Lederbeutel mit kleinen Messern und Kräutern bei einigen weiblichen Mumien weisen auf spezifische medizinische Kenntnisse hin.
Dafür spricht auch die mit Pferdehaaren genähte Nackenwunde eines Mannes.
Victor Mair ließ ein Stück Mumien-Kleidung von einer US-amerikanischen Spezialistin für eurasische Textilien untersuchen. Das Resultat: Das Material scheint aus den groben, äußeren Haaren von Schaf oder Ziege zu stammen und mit einer hochentwickelten Technik gewebt zu sein.
Vergleichbare Textilprodukte aus jener Zeit wurden in Deutschland, Österreich und Skandinavien gefunden.
Auch eine weitere Entdeckung untermauert die europäische Herkunft jener Menschen: das Stück eines hölzernen Rads.
Entsprechende, mit Dülbeln aus drei parallelen Holzplanken zusammengefügte Räder sind aus den Grasebenen der Ukraine bekannt, aus einer Zeit bis zu 3000 v. Chr.
Daß die Xinjiang-Leute mit Pferden vertraut, ja womöglich ein Reitervolk waren, dafür sprechen eine hölzerne Kandare, lederne Zügel und Peitsche sowie ein Backenriemen, die in Qizilchoqa gefunden wurden.
Die Herkunft der »Fremden« soll durch die Analyse der Erbsubstanz näher eingegrenzt werden.
Der Genetiker Francalacci hat den Mumien dazu Gewebeproben und Knochenstückchen entnommen.
Doch schon nach den bisherigen Erkenntnissen wecken die Funde Zweifel an der vorherrschenden Darstellung, die ostasiatische Kultur sei ohne jeden äußeren Einfluß entstanden.
»Die Chinesen waren nicht gänzlich vom Westen abgeschnitten«, stellt Mair fest und betont, daß ein kultureller Austausch in beiden Richtungen erfolgt sei.
Ja, manche Archäologen spekulieren, daß die »Barbaren« aus dem Westen sogar grundlegende Erflndungen wie das Rad oder die Metallverarbeitung nach Fernost gebracht haben.
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