Woher der angeblich Unsterbliche gekommen war, wann er sich neben mich gesetzt hatte, ich weiß es nicht mehr.
Da war nichts. War es ein kalter Luftzug? Meine Eingeweide verkrampfen sich leicht; ich presse dann die Arme gegen den Bauch. Horus (der hier die Gäste hereinlockt bzw. hinausekelt) kennt mich, kennt meine Zustände. Bringt mir jederzeit meine Wärmflasche.
„Luke, ich bins“.
Niemand nennt mich Luke.
War das eine männliche, eine weibliche Stimme? Eine heisere alte Dame. Ein stimmbrüchiger Knabe.
Niemand nannte mich Luke.
In der Schulzeit ein Lehrer. Verwechselte mich immer. Luke war ein anderer.
Ich bin nicht Luke. Und wer bist du?
Fragte ich nicht. Sagte vielmehr:
„Was riechst du nach Schwefel!“
Kein Laut, keine Bewegung, kein Atmen.
„Mein Teint.“ Er flüstert. „Ich brauche Schwefelpuder. Erstaunlich, daß du das bemerkst. Wird bei euch hergestellt. Deutsche Schwefelblüte.“
Er spricht immer leiser, wie ein vollkommer Erschöpfter. Wie einer, der, so deutlich es geht, noch eine Botschaft hinterlassen will, bevor er ohnmächtig wird oder stirbt.
Diese Stimme! Er sitzt rechts neben mir. Ich muß ihn berühren. Ich fühle ein seidenes Hemd, darunter einen mageren Arm, eine magere Schulter. Keine Bewegung, kein Atmen.
Der Arm hält einen Mantel fest, der zusammengefaltet auf dem Schoß liegt. Der Mantel ist aus weichem Leder. Schönes Leder.
„Ist der Mantel nicht wunderbar?“
Er gibt ihn mir. Reicht ihn mir mit einer leichten, aber entschlossenen Bewegung. Geruch von Kamelurin. Unwiderstehliche Geste. Tote Stimme, lebendige Bewegung! Ich wollte diesen naturgegerbten Mantel nicht.
Genäht aus schön geformten Schuppen. Ein Fischmuster. Ich spüre den Schuppenrändern nach. Gutes Handwerk. Der Mantel liegt schwer auf meinem Schoß und wärmt mich.
„Alle Schuppen sind dunkelgrün. Jede mit feinem, hellgrünem Rand. Könnte ich ihn dir nur geben. Was ich dir geben kann, ist das.“
Als hätte er kein Gewicht, verschwindet der Mantel.
Eine kalte Hand führt mein rechtes Handgelenk zum Tisch. Was dort vor mir liegt, ist eine Brille.
Ein Wunderheiler, die mich kurieren will!
„Erwarte kein Wunder. Das hier ist besser als nichts. Und kostet nicht die Welt.“
Ich bin Geschäftsmann. Jedes Interesse kann ich verbergen. Das habe ich von Kind auf geübt. Was ich nicht kann, ist: Interesse vortäuschen.
Was mich interessiert: das Alter neuer Gäste. Kann es oft erraten, manchmal auf dem Monat genau. Knaben verblüfft das.
„Ist attraktiver als deine jetzige Brille, Luke. Nebenbei: man nennt mich Jogger.“
Heiße ich Luke, kann er gern Jogger heißen. Sein Alter errate ich nicht. Das verstört mich. Seine Reglosigkeit, und daß ich keinen Atem spüre, ist greisenhaft. Das Plötzliche und Leichte seiner Bewegungen ist jugendlich.
„Kümmer dich nicht um mein Alter!“
Das höre ich von schräg oben. Unbemerkt ist er aufgestanden. Ich höre, wie er den Mantel anzieht.
Schritte. Es klingt wie Hüpfen. Dann eine kalte Bö von der Tür her.
Ich betaste die schwere Brille. Dicke Gläser, breite Bügel. Ich will sie nicht. Ich bin 1929 geboren. Aller Respekt gilt meiner Blindheit, nicht meinem Alter.
Horus zündet die Kerze auf dem Tisch an.
Serviert heißen Sake in kleinen Vasen, alle verschiedenen geformt. Setzt sich neben mich. Er hat die Ausstrahlung eines Lebenden.
Der Gast von soeben sei schon einigemal hiergewesen. Habe jedesmal nach mir gefragt. Er sei nicht unattraktiv. Wie die Mumie eines attraktiven Knaben. Er bezahle jedesmal sein Levico-Wasser mit einem Maple Leaf. Er trinke sein Glas nie aus. Wir sollten mit seiner Spende die Bar renovieren. Das hier sei die verkommenste Bar, die er in den letzten tausend Jahren erlebt habe!
Horus hatte nachgefragt: Unsterblichkeit sei nichts. Unsterblichkeit könnten wir alle haben. Das genau sei die Hölle: Unsterblichkeit.
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