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SEDVX schrieb am 24.11. 2002 um 18:03:03 Uhr über

Baphomet-Bar

Wieder ändert sich alles. Schon wenn ich die Bar betrete: der Geruch.
Die Musik, die Stimmen, das Benehmen der Gäste, die Auswahl der Getränke. Sooft ein Monat zu Ende geht, ändert sich alles.
Vertraut bleibt der nächtliche Fahrplan der Züge. Züge nähern und entfernen sich, fahren über die Gewölbe hinweg. Langsam. Die Bar gehört zum südlichen und verwahrlosten unterirdischen Bereich des Hauptbahnhofs.
Vertraut bleibt, wenn auch ohne erkennbaren Plan, wenn auch immer beunruhigend, das unendliche Rollen der Güterzüge.
Vertraut bleibt mein Stammplatz. Anders ist die Form des Glases, anders die Bitterkeit meiner Milch. Neu: kleine Figuren auf meinem Tisch.
Ich nehme sie in die Hand und erkenne sie.
In der Baphomet-Bar kennt man mich.
Dies ist eine NunZilla; vergeblich öffnet sie den Mund zum Feuer - Speien: der Knopf zum Aufziehen ist abgebrochen. Und das ist ein SerendipityKid: stumm, tot. Ersetzt man die Batterie nicht rechtzeitig, ist SerendipityKid für immer tot.
Und wer sitzt neben mir, fast lebensgroß? Nicht lebensecht: Plastik, kalt.
Figuren sind heute unter die Gäste gemischt. Unweit, in der nördlichen Deichtorhalle, ist eine Manga - Ausstellung.
Ich gehe umher. Anfangs wich man mir, dem Blinden, voreilig aus - heute genieße ich es, wenn Berührung weder gesucht noch gemieden wird.
Die Monster, auf die ich stoße, weichen nicht; sie betaste ich. Die großen Augen, die winzigen Nasen. Die zu einem Lust- oder Entsetzensschrei geöffneten kleinen Münder. Die gehörnten Knaben mit Drachenflügeln, mit unförmigen Genitalien. Die schräg in den Raum ragenden, kunstvoll gequirlten Samen - Fontänen.
Ich glaube, hier wird ausgestellt, was nicht für die Öffentlichkeit der Deichtorhalle bestimmt war.
Noch eine Fontäne durchquert im Bogen den Raum: an den Wirbeln eines spiraligen Gebildes taste ich mich entlang und stoße auf üppige Brüste. Eine Milchstraße, von einer Brust zur anderen! Ein tanzendes Mädchen, viel zu klein für solche Brüste, hält sie mit schwachen Armen hoch.
Ich weiß, daß diese Wesen schon richtig sich bewegen und fast schon leben - noch auf Bildschirmen und schattenhaft.
Und dieses Wesen, das mit mir am Tisch sitzt - ich taste und entdecke ich nichts Erschreckendes. Es ist nur ein Junge mit Mädchenbrüsten. Oben rollen schwere Güterwagen und dieser Junge an meiner Seite bebt, als ob er Angst verspürte.
Wie leicht ist Leben nachzuahmen! Wie leicht sind wir zu betrügen!




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