17.11.2009
Ein hektischer Tag, eine Pressemitteilung die unbedingt das »Licht der dpa« erblicken muss. Erst am Abend kann ich sie in Ruhe auf der Seite der Oberbehörde lesen.
Schuld und Sühne eines alten Mannes.
Zu den alten Männern gehört auch Sokrates. Ob der heutige alte Mann mit der Gelassenheit von Sokrates seinen Prozess ertragen kann? Wird er den Schierlingsbecher so frei nehmen, wie es in Bezug auf Sokrates beschrieben wird? Wir werden es wissen, wenn sein Prozeß beginnt. Beruft er sich darauf, nur seine Pflicht erfüllt zu haben?
So etwas habe ich heute mittag im Spiegel gelesen. Dort wurde in einem Artikel beschrieben, wie eine Frau nach 20 Jahren in das Zuchthaus zurückkehrt, in dem sie zu Unrecht wegen eines Flugblattes eingesperrt worden war. Die damalige Aufseherin kommt zu Wort und sagt sinngemäß: Es sei verboten gewesen, mit den Strafgefangenen zu reden. Sie seien auch nicht persönlich angesprochen worden, sondern nur: Strafgefangene, vortreten. Der Journalist stellt ihr die zwangsläufige Frage, was sie gedacht oder gefühlt habe. Die Aufseherin erklärt dann, das sie mit den »politischen« nie persönlich gesprochen habe, das habe immer nur Schwierigkeiten bereitet. Diese hätten immer geglaubt, sie, die Aufseherin sei Schuld an ihrem Dortsein im Gefängnis.
Und im übrigen: Sie habe ja nur die Befehle ausgeführt, die auf geltendem Recht beruht hätten.
Geschichte wiederholt sich, wir streiten, ob ein Staatswesen als Unrechtsstaat bezeichnet werden darf. Was dürfen wir von Bürgern erwarten, die sich zu Legitimierung ihres Handelns nur noch auf die Polis berufen und nicht mehr auf menschliche, menschenwürdige, auf ihre eigenen Maßstäbe. Haben wir nicht das eigene Denken oft genug eingestellt?
Ich frage mich manchmal, wie ich als Bestandteil dieses Staates und als einer seiner Garanten damit umgehen soll. Oft frage ich mich, ob das was geschieht, noch menschenwürdig ist. Werde ich mich eines Tages darauf berufen können, das ich auf der Grundlage einer Legitimation einer demokratisch gewählten Polis bewegt habe? Ich kann einfach erkennen, dass die Polis nicht mehr demokratisch im eigentlich Sinne gewählt worden ist. Ich sehe an allen Ecken Vetternwirtschaft, Korruption, Maßlosigkeit.
Die Tröge sind seit 61 Jahren die Gleichen, gewechselt haben nur die Schweine, die daraus fressen. Unsere Schweinehüter begreifen nicht mehr, welche Macht sie eigentlich hätten. Vielleicht ist auch die notwendige Beratung - wie in der griechischen Polis - der Schweinehüter abhanden gekommen. Das Gremium kann sich nicht mehr unterhalten, diskutieren oder debattieren, weil es nur in der Kabine seine Stimme abgeben kann. Nur die Schweine quieken in den Fernsehshows á la Maischberger etc., die Hüter schauen zu. Eine echte Meinungsbildung unter den Schweinehütern findet doch nicht mehr statt. Nur das Kreuz auf einem Blatt Papier. Und das in den Zeiten von Internet.
Schaut mann sich die Blogs und Foren an, fragt mann sich, welche Qualität diese Beiträge haben. Nur ganz wenige sind wirklich Meinungsbilder, meinungsbildend. Noch schlimmer sind die Kommentare in den Netzzeitungen.
»Herr, lass Wissen regnen«
Sokrates Spruch, das er wisse, das er nichts wisse, hat heute für mich eine neue Bedeutung bekommen. Bisher dachte ich immer, er wolle damit die Wahrheit bestreiten. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Wahrheit hinter dem alten Mann aus D., hinter der Aufseherin in einem Stasi-Gefängnis, die Wahrheit der Inhaftierten, Schweine und Hüter, Hartz IV-Empfänger und Millionär ... wer vermag alle die gleichzeitig stattfindenden Wahrheiten zu erfassen, sortieren und einzuordnen.
Gute Nacht, liebes Tagebuch, für heute.
PS: Die Wahrheit ist grausam - will ich sie wirklich wissen? Ich darf alles essen, aber muss ich alles wissen? Ja! Ich will dieses Land mit gestalten, menschlicher machen.
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