Meine Mutter bekam um ihren 50. Geburtstag herum, von wem, weiß ich nicht mehr, ein Buch mit dem Titel 'Geheimnisse der Frauenzimmer' geschenkt. Es war der Reprint eines Ratgeberbüchleins aus der Zeit um 1890, derselbe Verlag hatte zuvor in gleicher Ausstattung 'Das häusliche Glück' wieder aufgelegt. Während sich aber letzteres vor allem mit stärkenden, fettriefenden Eintopfgerichten - Zielgruppe Arbeiterhaushalte! - und Fragen der Wäscheausstattung und des Energiemanagements (Petroleum oder Gas?) befasste, ging 'Geheimnisse der Frauenzimmer' richtig in die Vollen. Anschauliche Gravüren bezeugten Steißlagen und Phimosen, auch die Psychologie kam nicht zu kurz: Wie oft, wie lange und darf auch die Frau dabei etwas empfinden? Als Handreichung zur Handentspannung konnte mir dieses krause Werk gewiss nicht dienen, trotzdem war es nicht zuletzt wegen des handlichen Sedezformats ein gern gesehener Begleiter bei Toilettengängen. Die Krönung dieses familienintern viel beschmunzelten und zitierten Werks war das Kapitel, dass sich in zeittypischer Paranoia der entsetzlichen Seuche der Onanie widmete und in gewohnt zwanghafter Weise alles herankarrte, was das sexuell untertourige Denken in wilhelminischer Zeit so beschäftigte: Blässe und Nervosität, Essstörungen, Zittern und immer wieder diese Pollutionen, auf das Wort waren sie, scheint es, damals ganz versessen. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch: Zwei Abbildungen zeigten Apparate-zur-Verhütung-der-Onanie-bei-Knaben und Apparate-zur-Verhütung-der-Onanie-bei-Mädchen. In beiden Fällen handelte es sich um metallene Konstruktionen, denen vermutlich das Ideal des Keuschheitsgürtels zugrunde gelegen hatte: Die Jungen hatten mittels metallener Bänder eine Art Tülle vorgebunden, was an einen Gießkannen-Stringtanga erinnerte. Mädchen bekamen ein Gegenstück verzurrt, das mit einem siebartigen Ausguß verbunden war und in der Zeichnung von ungefähr an ein Brötchen oder eine Pflaume erinnerte, ich fand es damals sehr schwer, mir überhaupt eine korrekte anatomische Vorstellung von der weiblichen Scham zu machen, aber dieser Fingerstopper überforderte mich in seiner Multidimensionalität völlig. Das Büchlein ist irgendwann untergegangen, als Mutter 2003 starb, habe ich vor den Entrümpelern nur soviel herausgetragen, wie ich mit beiden Händen und, na, so zwei, drei Gängen zum Auto tragen konnte, nur keine übertriebenen Erinnerungen bitte, Hauptsache, meine Schwestern hatten die Fotos in Sicherheit gebracht, das wäre mir zu bitter geworden, da noch einmal draufschauen zu müssen, ich habe Bücher, LPs und einen Aschenbecher mitgenommen, aber 'Geheimnisse der Frauenzimmer' ist damals in den Phlegethon geraten. With Buxtehude and Klages in your satchel - auch wenn es Hermann Löns und Johnny Cash waren. Inzwischen könnte ich mir dank ZVAB die Originalausgabe beschaffen, aber wozu? Die meisten der Bilder haben sich mir ohnehin eingebrannt, diese ernsten wilhelminischen Frauen mit Wagenradhüten und aufgeschnittenem Becken, darinnen der Fötus ruht, die Penisse in altägyptisch-statuarischer Profilansicht und eben auch die Apparate-zur-Verhütung-der-Onanie-bei-Knaben. Und nicht nur mir scheint das so zu gehen: Unter Bloggern, die wie ich mehrheitlich der Generation über 30 anzugehören scheinen, in der man beginnt, das Leben durch die Reflexion über selbiges zu ersetzen, finden sich etliche Verweise auf dieses Büchlein, und die moderne Bilderfassung spült manche liebgewordene Abbildung wieder an die Gestade meines Tellerrands. Die Unschuld des ersten Blicks jedoch ist irgendwo zwischen Nina Hagen und T-Online verloren gegangen.
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