Ohne viel Worte wollen wir direkt in das Erste Kapitel des Buches schauen.
ER OFFENBART SEIN GEHEIMNIS DEN PROPHETEN
Wohin blickt das fragende Auge des Propheten Ezechiel, dessen bis zum äußersten
gespannte Gestalt Michelangelo so monumental an die Decke der Sixtinischen Kapelle
gemalt hat? Schaut es in seiner Erregung eine der rätselhaften Visionen, die wie Sturmwind
und Feuer daherkommen und in denen der Prophet die seltsamsten Gesichte sah? Wer dem
erschreckten Blick Ezechiels folgt, wird in unendliche Fernen geführt, weitab von allen
Gestaden gesicherter Häuslichkeit, und erfährt zuletzt jenes Unheimliche, das eine Ahnung
des Prophetischen vermittelt.
Israels Propheten sind Menschen, die das übliche Maß springen. Sie sind nicht eine Einheit,
jeder von ihnen ist eine ausgeprägte Individualität, die sich gegenseitig in ihrer
Mannigfaltigkeit widersprechen. Der Versuch, die Propheten als Dichter aufzufassen, die
Sprachbilder von seltener Schönheit schufen, genügt so wenig, wie sie als philosophische
Denker zu bewerten. Die Propheten trugen weder schwermütige Lyrik vor noch gingen sie
denkerischen Problemen nach. Vielmehr löst sich bei ihnen der Schrei eines von Gott
verwundeten Herzens, der vom Ewigen aufgewühlte Mensch meldet sich zu Wort.
Propheten sind nicht ausgeglichene Naturen, keine Heiterkeit erfüllt sie, und den Wert des Humors scheinen sie nicht zu kennen.
Man darf bei ihnen nicht das Harmonische, das Universale, das Farbige suche, das fehlt alles, denn sie werden vom
Überzeitlichen bedrängt. Ihre Aufgabe bestand darin, das Eine mit gewaltiger Einsichtigkeit geltend zu machen und das Ewige
zu vertreten, das Göttliche gegen das Menschliche. Die Propheten haben ein Wort Jahwes, das die Menschen sonst nicht
besitzen, worin ihre Ratlosigkeit begründet ist. Um dieses Jahwewortes willen sind sie auch nicht vergänglich, sie überdauern
der Zeiten Wandel noch mehr als die griechischen Tragiker. Es ist nicht die Fülle des Lebens, die sie berühren, wohl aber das,
was alles Dasein trägt und auf das man nie verzichten kann. Es bedarf zur Erfassung des Prophetischen einer ausschließlichen
religiösen Kategorie: des vom Schauer des Metaphysischen erschütterten Sehers.
Der Prophet wird von Gott zu seinem Amt bestellt, es gehört eine nicht erklärbare Berufung von oben dazu, ohne die es keine
seherische Funktion gibt. ........
|