Die afghanische Gesellschaft ist durchweg traditional geprägt, moderne Strukturen waren auch vor dem Krieg nur in Ansätzen und lediglich in den größten Städten vorhanden. Besatzung, Bürgerkrieg und besonders das Taliban-Regime haben zu einer Re-Traditionalisierung Afghanistans geführt, zumal der größte Teil der »modernen« Elite des Landes ins Exil getrieben oder sogar zu Zehntausenden ermordet wurde.
Der traditionale Charakter der afghanischen Gesellschaft wird zum einen bedingt durch einen geringen Grad der »Durchherrschung« mit staatlichen Strukturen. Außerhalb Kabuls und der Provinzhauptorte tritt staatliche Verwaltung, sei es in Gestalt des Bildungswesens, bei der Aushebung von Rekruten für die Armee oder der Steuereintreibung nur wenig in Erscheinung und wird häufig als feindselig empfunden.
Wichtiger für die soziale Organisation der Landbevölkerung (die etwa 90 % aller Afghanen ausmacht) sind lokale Würdenträger, geistliche Führer, in manchen Landesteilen (etwa den usbekisch dominierten Nordprovinzen) auch Großgrundbesitzer, Dorf- und Clanälteste (rish safed, spingiri, wörtlich »Weißbärte«).
Von einer straffen hierarchischen Ordnung kann aber auch auf regionaler und lokaler Ebene nicht die Rede sein, zum einen ist die Macht der örtlichen Honoratioren vergleichsweise begrenzt, zum anderen ist auch der Institutionalisierungsgrad solcher Positionen, insbesondere bei den Paschtunen, recht gering: ein khan oder spingiray verdankt seine Stellung von seinen Dorf- oder Stammesgenossen als vorbildlich (z. B. gemäß des Paschtunwali) angesehenenen Charaktereigenschaften wie Mut, Freigiebigkeit, Weisheit oder Frömmigkeit, die er täglich neu unter Beweis stellen muss, um sich seine Gefolgschaft zu sichern, nicht jedoch seiner Herkunft aus einer privilegierten Familie. Von einer afghanischen Adelsschicht kann daher strenggenommen nicht gesprochen werden, wiewohl sich natürlich khanan, malikan (Ortsvorsteher) etc. in manchen Familien häufen.
Unter den Bedingungen des Krieges verschoben sich allerdings die gesellschaftlichen Machtschwerpunkte auf regionaler und lokaler Ebene zu den Mujahedin-Kommandanten und -Parteiführern (wobei sich letztere allerdings zumeist im pakistanischen oder iranischen Exil aufhielten), neben den traditionellen afghanischen Tugenden wurde jetzt auch militärischer Erfolg und der Zugang zu ausländischer militärischer und finanzieller Unterstützung wichtig.
Diese Veränderungen wirken im Nachkriegs-Afghanistan fort und stellen vielerorts Hindernisse für den Aufbau einer zivil-demokratischen Gesellschaftordnung dar.
Für traditionale Gesellschaften ist es typisch, dass politische und wirtschaftliche Entscheidungen aufgrund des personalen Charakters von Herrschaft eher personen- als sachorientiert getroffen werden. Abstraktes, an räumlich und zeitlich übergeordneten Strukturen orientiertes Denken ist selten; in einem islamischen Land wie Afghanistan ist dies zum Teil in religiös legitimiertem Fatalismus begründet.
In der älteren Literatur über Afghanistan wird die afghanische Gesellschaft gewöhnlich als durch und durch autoritär, konformistisch und in rigiden Hierarchien gebunden beschrieben, als eine Welt, in der jegliche Regungen von Individualismus rigoros unterdrückt werden. Neueren Untersuchungen zufolge scheint dies am ehesten noch auf traditionale städtische Milieus zuzutreffen, in den ländlichen Regionen und vor allem bei den Nomaden ist dieser Autoritarismus weniger ausgeprägt, insbesondere die Paschtunen besitzen in ihrer Stammesverfassung eine Reihe von demokratischen und egalitären Elementen, die durchaus auch dem neuen Afghanistan zugute kommen könnten.
Für die - im Westen viel diskutierte - Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft müssen ähnliche Klischees ebenfalls relativiert werden. Die totale Abschließung der Frauen (purda) hinter hohe Lehmmauern und in die berüchtigte burkha, die Ganzkörperverhüllung mit Stoffgitter für die Augen, war vor dem Krieg ein Phänomen, das vor allem in konservativen städtischen (»kleinbürgerlichen«) Milieus auftrat. Bei der Landbevölkerung war es unbekannt und angesichts der dortigen Lebensumstände (Feldarbeit der Frauen) auch gar nicht praktikabel. Die paschtunischen Nomadinnen lebten von allen traditionell lebenden Frauen in Afghanistan wahrscheinlich am freiesten, mangels fester Häuser ist purda bei den kuchis, den Nomaden, nicht denkbar.
Erst der Krieg und die mit ihm einhergehende weitreichende Unsicherheit der Lebensverhältnisse, im Hinblick auf die Frauen müssen dabei die häufigen Entführungen und Vergewaltigungen durch fremde Kämpfer genannt werden, führten zu einer verstärkten Betonung der traditionellen islamischen Konzeption des Mannes als Beschützer der Frau (die purda ist nicht koranischen Ursprungs, sondern geht auf persische und byzantinische Einflüsse zurück!). Dazu kamen dann vor allem natürlich zur Zeit der Taliban, aber tendenziell auch schon in den verschiedenen Mujahedin-Parteien der 80er und frühen 90er Jahre, rigide Vorstellungen über die Rolle der Frau in einer islamischen Gesellschaft, die vor allem durch aus Saudi-Arabien und Pakistan nach Afghanistan gekommene Kriegsfreiwillige verbreitet wurden.
(Quelle: Jörg 'Yadgar' Bleimann, LIS Afghanistan, http://www.inwent.org/v-ez/lis/afghanistan/seite4.htm)
|