Also, das Gegenteil von »Afghanistan« ist eindeutig »Zillertal«!
Warum?
Nun, nicht nur, weil es anders als »Afghanistan« nicht mit dem ersten, sondern dem letzten Buchstaben des Alphabets beginnt, auch nicht, weil das Bruttoeinkommen eines durchschnittlichen Zillertalers sich um Größenordnungen von dem eines durchschnittlichen Afghanen unterscheidet, sondern vor allem, weil seit eh und je (auch schon vor 1978, aber dazu gleich!) die Schnittmenge zwischen Zillertal-Touristen und Afghanistan-Reisenden gähnend leer ist!
Anders ausgedrückt: wer seinen Urlaub im Zillertal verbringt, käme nicht im Traum auf die Idee, sich mit so einem abseitigen, chaotischen, lebensgefährlichen Land wie Afghanistan auch nur zu beschäftigen, geschweige denn, es zu bereisen... und umgekehrt entlockt es einem gestandenen Afghanistan-Freak, der alle Teehaus-Wirte an der Zentralroute von Herat nach Kabul persönlich kennt, allenfalls ein mitleidiges Lächeln, wenn Tante Frieda vom Heimatabend in Mayrhofen und den leckeren Germknödeln im »Bratpfandl« erzählt.
Kurz: Zillertal und Afghanistan sind als Reiseziele in diametral entgegengesetzten soziokulturellen Milieus verortet.
Ins Zillertal fahren bodenständige Kleinbürger, die nicht nur mangels Fremdsprachenkenntnissen, sondern vor allem aus Angst vor »den ganzen Ausländern« nie den deutschsprachigen Raum verlassen (schon die Schweiz kommt ihnen irgendwie spanisch vor - und ist ihnen abgesehen davon auch zu teuer). Zillertaltouristen lesen »Bild«, spielen Lotto, sind mit ihren Opels, vom Admiral bis zum Corsa (»mir kommt kein anderes Auto ins Haus!«) seit 1962 Mitglied im ADAC und wählen selbstredend die Union. Sicherheit (oft »Sischerheit«, viele Zillertaltouristen können nämlich kein »ch« aussprechen, was sie übrigens mit Prolls und sonstigen Rheinländern gemeinsam haben!) geht ihnen über alles, beruflich, sozial und innenpolitisch. Als anständige Leute hätten sie nichts gegen eine eventuelle präventive Verwanzung aller Privatwohnungen, und von riskantem Extremsport lassen sie ebenfalls die Finger (manche Zillertaltouristen haben sich in jungen Jahren mal auf Skiern versucht - es endete regelmäßig im Krankenhaus).
Der typische Afghanistanfahrer hingegen ist im weitesten Sinne dem postmateriell-alternativen Milieu, mindestens aber dem progressiven Teil des Bildungsbürgertums zuzurechnen. Ihm kann es gar nicht wild und unkomfortabel genug zugehen, und wenn dort weit und breit niemand Deutsch oder wenigstens Englisch spricht, um wo besser - Sprachenlernen ist fast schon ein Hobby des typischen Afghanistanfahrers. Das Leben in einer fremden Kultur ist für ihn nicht Strapaze, sondern Faszinosum, und es kam in früheren Jahren durchaus vor, dass aus Afghanistanfahrern Afghanistanauswanderer wurden, die schließlich von Afghanen kaum mehr zu unterscheiden waren, Übertritt zum Islam eingeschlossen. Fairerweise muss man erwähnen, dass aus begreiflichen Gründen in den vergangenen 25 Jahren die meisten Afghanistanfahrer hauptsächlich von ihren Erinnerungen lebten, Nachwuchs hat es kaum gegeben, erst seit 2001 ändert sich dies ganz allmählich wieder. Der Afghanistanfahrer hat sich natürlich vor seiner allerersten Afghanistanfahrt mehr oder weniger gründlich mit einschlägiger Literatur schlau gemacht, ansonsten neigt er zu intellektuell einigermaßen ambitionierten Tageszeitungen, die »Süddeutsche« sollte es schon mindestens sein (zumal die auch einen sehr guten Auslandsteil hat), wenn er ein Auto besitzt, dann vorzugsweise eins, mit dem man sich bei aller Hindukuschtauglichkeit im mitteleuropäischen Großstadtverkehr nicht lächerlich macht - Maß aller Dinge ist immer noch der Citroen 2CV, auch »Ente« genannt, während Geländewagen aller Art allenfalls auf Afghanistan-Anfänger mit zuviel Geld hindeuten. Parteipolitisch ist er ungebunden, aber insgesamt neigt er eher zur linken Hälfte des Spektrums. Der echte Afghanistanfahrer weiß, dass das Leben eine völlig unberechenbare Veranstaltung ist, bei der außer dem in jedem Fall tödlichen Ende nichts sicher ist, folglich ist er sowohl gegen die Sehnsucht nach als auch die Angst vor der totalen Sicherheit ziemlich immun. Ein Afghanistanfahrer gibt sich nicht mit paranoiden Verschwörungstheorien aus dem Internet ab, dazu ist die richtige Welt (und vor allem natürlich Afghanistan) viel zu interessant.
Beiden Sehnsuchtszielen, dem Zillertal wie auch Afghanistan ist allerdings ihr enormes Suchtpotenzial gemeinsam - vom einen wie vom anderen kommt der Betroffene kaum jemals wieder los, es wird zu einer Lebens-Obsession, folglich ist das Zillertal auch irgendwo Spießers Afghanistan - und der Afghanistan-Freak sollte bei seiner nächsten Trekkingtour über den Anjuman-Pass, wenn er, dort oben angekommen, seine Blicke über das ohne Zweifel beeindruckende Panorama schweifen lässt, einmal bedenken, dass sowohl Panjshir, Kabul und Indus wie auch Ziller, Inn und Donau letztlich doch alle ins selbe Weltmeer fließen.
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