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Silke Liria Blumbach schrieb am 28.7. 2006 um 16:03:04 Uhr über

Abstieg

Abstieg
Auf diese Nacht hatte sie lange gewartet, immer wieder hatte sie jeden Schritt und jeden Handgriff in Gedanken ausgeführt. Jetzt war der Augenblick gekommen. In der Dunkelheit zog die Frau sich rasch und leise an und band das große, bunte Tragtuch um, an dem sie monatelang in verschwiegenen Stunden gewebt hatte und das sie am Nachmittag zuvor unter ihrem Kopfkissen versteckt hatte - hätte sie es im Kleiderschrank gelassen, so hätte sie jetzt eine verräterisch knarrende Schranktür öffnen müssen. Ihr Mann hätte davon erwachen können, und das durfte auf keinen Fall geschehen. Die Frau trat an die Wiege, schlug die Decke zurück und hob das Kind heraus, das sich auf ihrem Arm räkelte und große, braune Augen auf sie richtete. „Bitte, schrei nicht, Jasmin, bitte“, dachte sie. „Um alles in der Welt, sei ruhig, nur diese paar Augenblicke lang.“ Anscheinend spürte Jasmin die Bedeutung dieser Stunde, denn sie gab keinen Mucks von sich, als die Frau ihr die dunklen Strähnen aus dem schönen Gesichtchen strich und das Kind danach in ihr Tragtuch band und auf den Rücken hängte. „Wir werden eine weite Reise machen, nur wir“, dachte sie, „Jasmin, mein kleiner, bunter Schmetterling.“
Die Zimmertür war nur angelehnt und ließ sie lautlos hinaus, die Wohnungstür hingegen fiel mit einem unüberhörbaren Schnappen ins Schloss. „Seis drum“, dachte sie, „jetzt wird er uns nicht mehr aufhalten können.“ Vor ihr lagen die langen Korridore ihres Stockwerks, die mit ihren Verbindungsgängen und Abzweigungen ein gigantisches Netz bildeten, einen grenzenlosen Irrgarten für alle diejenigen, die sich in ihm nicht auskannten. Durch jahrelange Besorgungen, Besuche und auch neugierige Erkundungen war der jungen Frau der größte Teil ihres Stockwerks vertraut geworden; außerdem kannte sie einige Bereiche der angrenzenden „Lebensebenen“, wie der offizielle Ausdruck lautete. Immer weniger Menschen verkehrten jedoch in mehreren Ebenen, wozu auch? Jede Etage war eine große Welt für sich, die alles enthielt, was der Mensch zum Leben brauchte, und noch einiges darüber hinaus: Wohnungen, Werkhallen, Gemeinschaftssäle, Krankenabteilungen, Läden und vieles mehr, und hin und wieder einen Grünsektor, der einmal wöchentlich zur Gesundheitsvorsorge aufgesucht werden musste. Das enge Treppenhaus am äußersten Rande des „Lebensturmes“ hingegen verfiel zusehends, und es gab abergläubische Mütter, die ihren Kindern verboten, in der Nähe dieses geheimnisvollen Schachtes zu spielen.
Sie und ihr Mann gehörten zu den wenigen, die nicht im Turm geboren waren. Sie kamen von außerhalb, doch jene Zeit lag schon so lange zurück, dass sich die Frau nur noch vage an Fenster erinnerte, durch die man etwas anderes sah als Himmel. Blaue Rechtecke, heller oder dunkler, Blau mit Weiß vermengt, graue Rechtecke, schwarze Rechtecke mit Sternen oder ohne Sterne, das war die Aussicht aus ihrem neuen Heim. Farben in Bewegung oder Stillstand, niemals etwas Lebendiges oder von Menschen Gestaltetes, draußen. Drinnen war alles, draußen war nichts; drinnen war Leben, draußen war Tod, erzählte man sich; doch die Frau wollte es nicht glauben. Schließlich war sie selbst von außerhalb gekommen. Außer ihr machte sich niemand Gedanken über die Welt jenseits der Mauern, und ihr Mann, immerhin selbst ein Hinzugekommener, warf ihr vor: „Du setzt der Kleinen noch Flausen in den Kopf.“ Er schien vergessen zu haben, dass Jasmin, obwohl im Turm geboren, ein Schmetterling war. Schmetterlinge müssen fliegen.
Dabei hatte doch er, als sie noch nicht im Turm wohnten, ihr das Lied beigebracht, das er ihr nun zu singen verbot: „Mitternacht ... in der Wüste ... bin ich einsam...“ Oft stand die Frau mit der Tochter am Fenster, das wie eine Lampe in abstrakter Formgebung an der Wand hing und immer geschlossen blieb, und dann sang sie Jasmin das Lied vor, um in ihr die Erkenntnis zu wecken, dass es jenseits des „Lebensturmes“ noch eine Welt gab, in der man leben konnte. „Sing dieses Lied nicht, es wird noch einmal ein großes Unglück bringen!“ beschwor er sie eindringlich. Doch es gibt Lieder, die gesungen werden müssen, die es nur gibt, um von einer Frau am Fenster eines gigantischen Wohnturmes zu einem kleinen, dunklen Kinde gesungen zu werden. Auch wenn sie den umfassenden Gehalt von Worten und Melodie nicht begriff, spürte sie, dass das Lied den Erdboden besang, den es nur in der äußeren Welt gab, und sie zu diesem Erdboden hinzog. Die Wüste war Erdboden.
Längst hatte die Frau auf ihrer Wanderung das Treppenhaus erreicht, diesen mit Stufen besetzten Schacht in eine unermessliche Tiefe; und sie wusste nicht, wie viele Tage oder Wochen sie mit ihrem Bündel auf dem Rücken nun schon einen Fuß vor den anderen setzte. Die Kreise der Wendeltreppe, die sich nicht schlossen und sie mit jeder Umdrehung ein Stück abwärts führten, hatten ihr das Gefühl für Zeit genommen. Sie wusste auch nicht, wie weit der Weg zum Boden war, weil niemand im Turm mehr sagen konnte, wie viele Stockwerke es gab und ob das eigene Stockwerk oben, in der Mitte oder eher unten lag. Fragen konnte sie sowieso niemanden mehr, weil ihr im Treppenhaus kein Mensch begegnet war. Doch ohne eine Erklärung, einen Beweis, eine Rechtfertigung dafür zu kennen, war sie davon überzeugt, dass jeder Turm, so hoch er auch in den Himmel ragte, auf festen Erdboden gebaut sein musste.
Und da es irgendwann soweit sein musste, war es tatsächlich irgendwann soweit. Die Spirale der Wendeltreppe lief in einen vollständigen, sich schließenden Kreis aus, der an eine einfache Eisentür grenzte. Die Frau drückte die Klinke nieder und trat durch die Tür nach draußen.
Zunächst sah, hörte, fühlte sie überhaupt nichts. Es war schwarze Nacht, und erst als sie einige Schritte ins Unbekannte gegangen war, fand sie die Sterne am Himmel, die sie von ihrem vergangenen Fenster her kannte. Anders geworden war der Boden unter ihren Füßen, wirklicher Erdboden anstelle der Gänge aus Plastik und der Treppenstufen aus Beton. Sie kniete nieder und berührte den Boden mit den Fingern. Es war Sand, Wüstensand. Vor ihr, neben ihr lag grenzenlos die Wüste, und als sie sich umdrehte, um zum letzten Mal die Welt zu sehen, die sie verlassen hatte, war der „Lebensturm“ verschwunden.
Mitternacht ... in der Wüste ... bin ich einsam...“
Entsetzen würgte die Frau, als die wahre Bedeutung des alten Liedes sich ihrer bemächtigte. Sie band das Tragtuch vom Rücken und öffnete es. Jasmin, ihre geliebte Tochter mit den dunklen Haaren, den dunklen Augen und den ebenmäßigen Gesichtszügen, Jasmin, der kleine, bunte Schmetterling, war tot.



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