Im Herbst fuhr ich mit Anna nach Prag.
In Prag betrank ich mich zum ersten Mal in meinem Leben aus Verzweiflung. Wir bestellten uns eine Flasche Wein auf unser Zimmer, und als sie eingeschlafen war, bestellte ich noch eine weitere Flasche, saß dann auf dem kleinen Balkon, in die Bettdecke gehüllt. Ich starrte auf die Altstadt hinab, hinauf zur Burg.
Die Dunkelheit legt sich erst schwer auf den Körper, und sickert dann durch die Kleidung, dringt durch die Haut bis zu den Organen vor und es ist die Stille, die den flüsternden Wahnsinn hinein pflanzt.
Nachts sind die Gedanken unzensiert.Ich wollte weg, und ich stellte mir vor, daß ich meine Arme ausbreiten und zu der nachtblauen Burg hinauf fliegen würde und wenn die Sonne aufging, würde sie meine unsichtbaren Flügel verbrennen und ich selbst auf den Zinnen zerschellen. Ich konnte nicht fliegen und dachte wohl, ich könnte zumindest die Einsamkeit ertränken, denn am nächsten Morgen erwachte ich auf dem Boden neben der Toilette, mein Kopf schmerzte und Anna starrte mich vorwurfsvoll an.
Sie brachte mir Orangensaft und Aspirin.
„Du siehst krank aus.“
Ich war krank.
Mein Kopf war in den Wolken und meine Füße im Morast.
Sie liegt auf dem breiten Doppelbett des, für unsere Verhältnisse, luxuriösen Hotels und raucht, bläst Ringe an die Decke. Ihr nackter Körper sieht seltsam leblos und schwer aus, ihre Fußnägel sind grellrot lackiert, und plötzlich überfällt mich ein Ekel, und ich muß die Augen schließen, ich möchte anfangen zu schreien und schreien, bis das ganze Hotel zusammen bricht, ich möchte los ziehen und alle Häuser dieser verdammten Stadt niederbrennen, und dann möchte ich sie zum Schweigen bringen, ich will ihr die Kehle durchschneiden, ich will diesem plappernden Gör mit ihren dummen roten Fußnägeln, ihrem sinnlosen Geschwätz ein Ende bereiten, und ich frage mich, warum ich überhaupt mit ihr weg fahren mußte.
Aber dann lasse ich es doch lieber bleiben.
Wir blieben noch einige Tage in Prag. Wir gingen zu dem alten jüdischen Friedhof, ich stand sprachlos vor dem Chaos der übereinander aufgetürmten Schichten von Grabsteinen, suhlte mich in Selbstmitleid während Anna mich durch die Straßen der Altstadt zerrte, voll mit einer Begeisterung, die mich nicht mehr berührte.
Nachts dann ihr warmer Atem in meinem Nacken.
Mein Körper blieb taub gegen sie.
Wir besichtigten die Sehenswürdigkeiten der Stadt, aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Das Essen schmeckte mir nicht, und der Wein diente nur dazu, mich in einem einigermaßen erträglichen Zustand zu halten.
Schließlich beschlossen wir zurück zu fahren.
Auf der Heimfahrt im Zug konnte ich nicht länger verbergen, daß das, was zwischen Anna und mir gewesen war, vorbei sein mußte.
„Wir müssen uns trennen. Ich will dir nicht weh tun müssen, verstehst du das ?“
Sie verstand es nicht.
„Ich will nicht, daß du noch länger auf mir herum trampelst, und ich wollte ohnehin nicht so tief in diese Geschichte hinein geraten.
Ich will ein anständiges Leben, ohne Probleme.
Du brauchst Hilfe, verstehst du, professionelle Hilfe. Ich werde mich da nicht hinein ziehen lassen, also sieh verdammt noch mal selbst, wie du zurecht kommst.“
Ihr Mund wird trotzig, während sie spricht.
Ich sage zuerst gar nichts darauf.
Eigentlich beende ich das, aber vielleicht ist es besser für sie, wenn sie das Gefühl hat, daß sie selbst einen Schlußstrich unter unsere gemeinsame Vergangenheit zieht.
Das reicht ihr aber nicht.
„Du bist egoistisch, dumm und egoistisch. Du denkst nur an deinen eigenen Vorteil. Wie es mir dabei geht interessiert dich überhaupt nicht.“
Sie starrt mich voll Verachtung an. Ihr Stimme klingt zornig, aber ihre Augen spiegeln eine Trauer wieder, die ich nicht erwartet habe. Ich kann nichts sagen. Wahrscheinlich hat sie recht. Ich lehne mich in dem überheizten Abteil zurück, in dem wir glücklicherweise alleine sind, und fixiere einen Punkt knapp über ihrem Kopf, eine Unebenheit in der Abteilwand, wo das Holz verfärbt ist, ich starre auf diesen Punkt und versuche gar nicht zu denken.
„Du hast vollkommen recht.“ sage ich schließlich tonlos und irgendwie tut sie mir leid, mein kleines, hitziges Mädchen mit den tausend ungelebten Träumen in ihrem hübschen Kopf, aber ich kann nichts tun, ich kann überhaupt nichts dagegen tun.
Es gibt keinen Grund für meine Gleichgültigkeit, es ergab auch keinen Sinn, daß ich mir ausmalte, wie es sich anfühlen würde, ein langes, stahlblitzendes Messer von unten, am Rippenbogen beginnend, nach oben Richtung Herz zu stoßen.
Ich denke, ob sie stark zucken würde.
„Ich will dich nie mehr wieder sehen . . . “ sagt sie am Bahnsteig.
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