Bahn-Projekt »Stuttgart 21«
Der Abriss beginnt
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DPADie Menschen protestieren - die Maschinen legen trotzdem los. In Stuttgart hat der Abriss des Hauptbahnhof-Nordflügels begonnen. Demonstranten gelangten auf ein Dach und entrollten ein Plakat. Stararchitekt Frei Otto, der das Megaprojekt mitentwickelt hat, fordert inzwischen einen Baustopp.
Stuttgart - Für das umstrittene Bahnprojekt »Stuttgart 21« haben die Hauptabbrucharbeiten an den Seitenflügeln des Kopfbahnhofs begonnen. Unter dem Protest von Demonstranten riss ein Bagger nach und nach eine Seitenmauer des Nordflügels ein. Ein Großaufgebot der Polizei sicherte die Baustelle ab.
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Gegner des Bahnprojekts legten den Verkehr in der Innenstadt weitgehend lahm. Die Organisatoren der Proteste sprachen von 12.000 Teilnehmern. Dagegen zählte die Polizei insgesamt etwa 6000 Protestierende. Einige Personen, die mit einer Sitzblockade den Zugang zum Gelände blockierten, trug die Polizei weg.
Andere Demonstranten besetzten die Gleise, so dass der TGV in Richtung Paris erst mit 40-minütiger Verspätung ausfahren konnte. Bei einem weiteren abfahrenden Zug zogen Unbekannte die Notbremse, wodurch die Abfahrt des Zuges verzögert wurde.
Auf einer Webcam war zu sehen, dass mehrere Demonstranten es auf das Bahnhofsdach geschafft hatten und dort in der Nähe der Abrissmaschine ein Transparent gegen den Stuttgarter Bürgermeister entrollten: »Brandstifter Schuster - raus aus dem Rathaus«. Sie winkten den Menschen unten auf der Straße zu. Später verhandelten Polizisten mit ihnen auf dem Dach. Auch als die Nacht hereinbrach, blieben die Personen auf dem Gebäude, die Behörden ließen sie vorerst gewähren. Unten fand spontan eine Demonstration statt, dort wurde immer wieder skandiert: »Oben bleiben!« Bis Redaktionsschluss um Mitternacht hielten die Aktivisten auf dem Dach aus.
Auch an den kommenden Tagen würden sich die Gegner mit Protesten gegen das Bahnprojekt stellen, sagte ein Sprecher. Der Schauspieler Walter Sittler und der Sprecher des Bündnisses der »Stuttgart 21«-Gegner, Gangolf Stocker, riefen zu einer Menschenkette um den Landtag auf. Bis dahin sollten die Gegner dafür sorgen, dass durch den Eingang des Baugeländes »nichts mehr rein und nichts mehr raus« komme, sagte Stocker. Mindestens 500 Menschen müssten in den nächsten Tagen vor dem Zaun stehen.
Im Bahnhofsinneren läuft der Abbruch bereits seit Juli. Mitte August war außerdem schon ein Vordach abgebaut worden. Es war die erste äußerlich sichtbare Beschädigung an dem denkmalgeschützten Gebäude des Architekten Paul Bonatz (1877-1956). Für das Projekt »Stuttgart 21« sollen die Seitenflügel des Gebäudes abgerissen werden, das Frontgebäude bleibt stehen.
»Es geht um Menschenleben«
ANZEIGEDer 85-jährige Architekt Frei Otto, einer der Schöpfer von »Stuttgart 21«, der mittlerweile zu den Gegnern gehört, forderte einen Stopp des Bahn-Projekts. Er war erst vor einem Jahr aus der Projektgruppe ausgeschieden und sagte jetzt dem Magazin »Stern«, er befürchte, dass der Bahnhof überschwemmt werden oder »wie ein U-Boot aus dem Meer« aufsteigen könnte. Denn die Erde unter Stuttgart sei voller Wasser und Quellen sowie Gipsschichten mit hohem Anhydridanteil. »Ich muss laut werden«, zitierte ihn das Magazin, »aus moralischer Verantwortung kann ich nicht anders.« Man müsse jetzt »die Notbremse ziehen«, es gehe »um Leib und Leben«. Otto hatte 1997 mit Christoph Ingenhoven den Wettbewerb für den Bau des Tiefbahnhofs gewonnen und diesen mitentworfen.
Dem »Stern«-Bericht zufolge geht aus einem geologischen Gutachten von 2003 des Ingenieurbüros Smoltczyk & Partner hervor, dass der Untergrund voller Hohlräume ist. Der Tübinger Geologe Jakob Sierich hat für das Magazin das Gutachten analysiert und kam zu dem Schluss: »Bei 'Stuttgart 21' geht es nicht um mögliche Risse in Häusern, es geht um mögliche Krater, in denen Häuser verschwinden können. Es geht um Menschenleben.«
Die Projektträger wiesen die Vorwürfe des Architekten als »Panikmache« zurück. »Die Äußerungen von Frei Otto sind fachlich nicht fundiert und entbehren einer soliden Grundlage«, sagte Wolfgang Drexler, Sprecher des Bahn-Projekts Stuttgart-Ulm. In Stuttgart seien schon in denselben geologischen Schichten Tunnel gebaut worden, und es sei nichts passiert.
otr/dpa/apn/ddp
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