Die Großen Ferien waren zu Ende. Am ersten Schultag nach der großen Pause betrat der Direx mit einem Jungen unsere Klasse. Das war 1951. Ich war damals 12.
Der Junge war in unserm Alter, schlank, blond, sonnengebräunt. Er trug nur knappe Turnhosen, ein kurzes Hemd und Sandalen. Seine Oberschenkel waren voller frischer Striemen.
Der Rektor erklärte uns warum der Junge so dürftig bekleidet und Striemen hat: :
„Sein Vater ist Amerikaner und Pastor einer Sekte. Sie erziehen ihre Kinder nach dem Bibelspruch „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es“ Sie müssen lernen Schmerz, aber auch Kälte und Hunger auszuhalten. Euer neuer Freund heißt Tom. Er lebt mit seinen Eltern seit drei Jahren in Deutschland. Jetzt spricht er so gut Deutsch, dass er auf`s Gymnasium gehen soll. Helft ihm, seid gute Kameraden, wenn er in Deutsch noch Schwierigkeiten hat.“
Und zu unserm Klassenlehrer gewandt: „Wenn er Mist macht und Strafe verdient hat: Verprügeln sie ihn, wenn nötig. Aber auf den Arsch, nicht auf die Schenkel!“
Drei Monate später, Anfang November. In meiner Klasse will ich immer der Letzte in kurzen Lederhosen sein. Morgens ist manchmal Reif auf dem Rasen. Jetzt trage ich warme Wollunterhosen, feste Schuhe mit Wollsocken und einen warmen Pullover oder einen gefütterten Anorak auf der Straße. Tom hat jetzt auch Lederschuhe mit Söckchen, aber nur eine warme Weste über dem kurzen Hemd. Er hat auch Lederhosen an, aber am Mittwoch, wenn Sport auf dem Stundenplan steht, nur Turnhosen. Wir sind jetzt Freunde, sitzen nebeneinander. Ich bewundere ihn wie tapfer er die Kälte erträgt.
Meine Eltern sind nicht zimperlich. Sie finden es in Ordnung, wenn mein Bruder und ich immer noch kurze Hosen tragen. Aber dass mein Freund sich freiwillig züchtigen lässt, finden sie abartig. Und als ich Tom einmal an einem Mittwoch mit nach Hause nehme, platzt Mutter der Kragen: „Deine Eltern werde ich bei der Polizei anzeigen!“ Aber Tom sagt: „Das ist für mich o.k. Ich will hart werden!“
Als es Dauerfrost gibt und der Schnee liegen bleibt, hat er nun warme Unterhosen, warme Wollsocken und eine langärmlige Windjacke an. Wir sind stolz, was wir aushalten können. Meine Mutter sagt „Meinetwegen, solange du nicht krank wirst.“
Bei Tom zu Hause – hinter der Kaserne sind ein paar Häuser von den Amis beschlagnahmt – erlebe ich die Abhärtungspraktiken seiner Eltern. Im Flur hängen zwei Riemenpeitschen. Er zeigt sie mir: Eine hat dünne geflochtene Riemchen, die andere hat scharfkantige Lederschnüre. Tom legt Schuhe, Socken und Windjacke aus und fragt die Mutter – der Vater ist nicht zu Hause – ob sie ihn züchtigen möchte oder ob er auf den Vater warten soll. „Kühl dich erst aus!“ ist ihre Antwort. „Komm mit zum Duschen,“ sagt er zu mir. Wir steigen die Treppe hoch. Tom zieht sich nackt aus. Ich zögere. Er: „Sei nicht feige!“ Blamieren will ich mich nicht. Es gibt eine Eieruhr. Tom stellt sie auf zehn Minuten und dreht das Wasser auf. Eiskaltes Wasser! Zehn Minuten kommen mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Er scheint es gewohnt zu sein und lenkt mich mit ein paar Witzen ab. Zum abtrocknen gibt’s nur ein feuchtes Handtuch. Wir ziehen nur unsere Lederhosen an und warten in seiner Bude auf den Vater.
Bald wird er gerufen. Ich bin erstaunt: Der Vater ist ein Schwarzer. Tom stellt mich vor: „Boss“ (nicht Vater) sagt er „das ist mein bester Schulfreund.“ Der Mann nickt und erklärt (auf Englisch): „Wir sind Tom´s Erzieher. Kinder sollen lernen alle Leiden zu ertragen. die Jesus ertragen musste. Ich habe gelernt, dass viele deutsche Jungen hart erzogen, Das ist in Amerika selten. Tom soll ein deutscher Junge werden. Er ist bereit dazu!“
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