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voice recorder schrieb am 29.1. 2003 um 15:12:31 Uhr über

1954

Die Presse (AT), diepresse.com, 02.11.2002


Wer Blissett sagt, sagt so gut wie nichts
Der Unterschied zwischen einem Roman und einer interaktiven Software? Bei
Luther Blissetts »Q«: keiner. Das unter diesem Namen für Subversionen aller Art
firmierende italienische Autorenkollektiv mischt lustvoll die Genres.

Von Rupert Ascher



Luther Blissett: Q, Roman, Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann, 800 S., geb., € 23,60 (Piper
Verlag, München)
Luther Blissett: The Invisible College. 100 S., brosch., € 14,90 (Edition Selene, Wien)


Sie wissen nicht, was Luther Blissett ist? Luther Blissett ist ein Kollektivname, den alle benutzen, die
Leute machen was und unterschreiben dann mit diesem Namen, Künstler und Hacker und so. Eine
praktische Identität: Wer Luther Blissett sagt, sagt so gut wie nichts."

Eine Auskunft, die Grazia, die Ermittlerin in Carlo Lucarellis Bologneser Kult-Krimi »Der grüne Leguan«,
schon vor Jahren nicht wirklich weiterhalf. Intensiviert man die Recherche, stößt man bald auf schöne
Geschichten wie die von einem Ex-Watford-Fußballer namens Luther Blissett, der Anfang der achtziger
Jahre kurzfristig für den AC Milan spielte, wegen Erfolglosigkeit allerdings den Beinamen "Luther
Missit" erhielt, Ziel rassistischer Witze wurde und recht flott wieder aus der Liga verschwand. Eine
weitere Spur in der Welt des Fußballs: Nach einem Match, in dem er zwei Tore erzielte, behauptete
Ruud Gullit im Angesicht einer enthusiasmierten Menge, er heiße nicht »Goellid« sondern Luther
Blissett, woraufhin sich die Fans zerstreuten. So behielten die Fußballer den Namen zum Schutz ihres
Privatlebens einfach bei - und ein Mythos zog seine Kreise. In Blissetts Essay "The Open Pop Star & its
Enemies" kann man etwa auch nachlesen, daß Eros Ramazzotti seine Konzerte in Trento unter dem
Namen »Luther Blissett« ankündige, weil er so mehr Tickets verkauft als unter seinem eigenen Namen.
Luther Blissett - der ideale Name für Subversionen aller Art?

Der »echte« Luther Blissett ist mittlerweile zwar für tot erklärt (am ersten Tag des Jahres 2000 habe
er, inspiriert durch Yukio Mishima »Seppuku«, rituellen Selbstmord, begangen), aber sein Cyberwesen
treibt weiter durchs Internet, verschreibt sich immer noch Dutzenden unterhaltsamen Biographien und
führt seinen Widerstandskampf gegen die mediale Macht der Institutionen und eine alles
niederwälzende Mainstream-Kultur mittels irritierender Meldungen, provokativer Pamphlete und
Guerilla-Aktivitäten (www.lutherblissett.net) weiter.

Für seine ersten Betreiber, politische Aktivisten und Künstler aus der autonomen linken Szene
Bolognas, ging es darum, nicht nur zu sagen »Die Journalisten lügen«, sondern "diese Lügen mit einem
Angebot alternativer Mythen zu steuern, mit der Verwendung bestimmter Wörter Sinndeplazierungen
zu produzieren, die dann von der Presse übernommen werden", wie es der Theoretiker Roberto Bui in
»Jungle World« zusammenfaßt. Man wollte einen Mythos »in progress« kreieren, das
No-Copyright-Konzept für eine ununterbrochene Reproduktion der Texte für nichtkommerzielle
Nutzungen war dabei ein entscheidender Weg des politischen Kampfes. Im Netz findet sich
beispielsweise die elegant-anarchische (Des-)Information, daß der Piper Verlag die eingeschränkten
deutschen Rechte an »Q« für unglaubliche 120 Millionen Mark gekauft habe.

Wie paßt nun ein klassischer Historienthriller wie »Q«, zuerst erschienen beim Großverlag Einaudi, in
dieses Konzept? 1994 begannen vier junge Bologneser Autoren, Teile ihres Werks unter dem
»Luther-Blissett«-Projekt ins Netz zu stellen, 1999, nach der Publikation durch Einaudi, traten sie dann
auch namentlich an die Öffentlichkeit: Luca di Meo, Federico Gugliemi, Fabrizio P. Belletati und Giovanni
Cattabriga hätten ihren im 16. Jahrhundert angesiedelten historischen Roman geschrieben, weil in
ebendiesem Zeitraum die Moderne ihren Anfang nahm "und mit ihr all das, was heute im Begriff ist,
sich zu zersetzen: Europa, die Massenkommunikation, der Polizeiapparat, das Finanzkapital, der
Staat". Doch auch das Vergnügen an Huren, Geschäften, verbotenen Bücher und päpstliche Intrigen
sei Grund für die Niederschrift gewesen, was sonst verleihe dem Leben Würze?

»Q« ist denn auch eine grandiose Collage geworden, in der sich die Genres lustvoll mischen:
Spionageroman, Historienpanorama, Reise- und Bildungsroman. Luther Blissett haben auf 800 Seiten
zu einer chorartigen Erzählweise gefunden, welche die verschiedenen kollektiv erarbeiteten
Erzählstränge zu einem hochspannenden und klugen Ganzen verflechten. Mit acht Händen schreiben
sei wie musizieren in einer "Jazz-Combo: gemeinsames Grundschema, Kollektivimprovisationen und
einzelne Soli», zitiert «La Repubblica» die jungen Autoren. «Man könnte es jedoch auch mit der Kon-
zeption eines Videospiels vergleichen: Dort werden immer mindestens 20 Personen als Autoren
genannt. Und wo liegt schließlich der Unterschied zwischen einem Roman und einer interaktiven
Software? Im übrigen sagt Blissett seit Jahren, daß Schreiben und kreatives Schaffen ein vollkommen
gemeinschaftlicher Prozeß sei; Ideen kennen kein Eigentum, das Genie existiert nicht. Es geht lediglich
um eine von Grund auf neue Zusammenstellung."

Mit dem Jahr 1555 setzt der Erzähler des Romans den Ausgangspunkt für seine - und seines Gegners
Q - Erinnerungen an die ersten 40 Jahre der Reformation. 1517 schlägt Luther seine Thesen gegen
den Ablaßhandel an die Wittenberger Schloßkirche, 1555 besteigt Gian Pietro Carafa den päpstlichen
Thron und installiert die Inquisition. Der rätselhafte Titel »Q« leitet sich vom Buch Qohelet ab, dem
»zweiflerischsten und unheiligsten Buch der Bibel«. Sowohl der Erzähler als auch sein ständiger,
unsichtbarer Gegner Q sind Figuren der zweiten Reihe hinter all den Päpsten, Fürsten und
Revoluzzern, doch sie sind die eigentlich handelnden und erleidenden Personen.

Als junger Mann macht sich der Erzähler auf nach Wittenberg zu Luther und gerät mit zunehmender
Radikalisierung der Lage schließlich in den Umkreis Thomas Müntzers, des legendären Anführers der
Bauernaufstände. Im Wechselspiel aus Erzählung und den Briefen des Spions Q an seinen Kardinal
Carafa entwickelt sich allmählich die böse Intrige, die Müntzer in die Katastrophe führt.

Jahre später wiederholt sich die revolutionäre Katastrophe an einem anderen Ort mit anderen
Darstellern: Die Eroberung Münsters durch die Wiedertäufer, die Gründung eines neuen Reiches und
dessen schleunige Korruption durch Fanatismus, überzogenen Radikalismus (Institution der Vielehe;
Terror gegenüber den eigenen Parteigängern) wird auch diesmal wieder kontrolliert durch den Spion,
der aus der südlichen Wärme kam. Wie er zuvor Müntzer und Luther gegen die Fürsten ausspielte, ist
es nun opportun auf die protestantischen Fürsten zu setzen, damit die dem noch gefährlicheren Traum
einer schrankenlosen Freiheit eines Christenmenschen ein Ende setzen.

Die wenigen überlebenden Wiedertäufer werden in alle Winde zerstreut, der Erzähler findet sich mit
Gleichgesinnten in Antwerpen wieder, wo er die Macht mit neuen Strategien bekämpft. In einer
schönen, großangelegten Betrugsaktion nehmen sie den allmächtigen Kapitalisten, den Fuggern, die
alle Mächtigen in Europa finanzieren, einen großen Geldbetrag ab, um den Reformationskampf in
Norditalien fortsetzen zu können. Der Buchdruck ist nun die mächtige Waffe, auf welche die Erneuerer
setzen, und »Il beneficio di Christo« das Buch, welches das Konzil von Trient und die anstehende
Papstwahl in Richtung gemäßigter Kirchenkreise beeinflussen soll. Doch als sich die Jagd auf Q ihrem
überraschenden Ende zuneigt, hat Kardinal Carafa mit der Inquisition schon längst eine Waffe in der
Hand, gegen die Qs Aktivitäten milde genannt werden müssen.

Mit einem Schmunzeln nennen Luther Blissett ihren Roman "die theologische Summa des
Luther-Blissett-Projekts". Es gehe um die gleichen Themen, die auch im übrigen
Kommunikationsguerilla-Projekt wichtig seien, multiple Identitäten in den verschiedenen Namen der
Protagonisten und um die Unterwanderung der grenzenlosen Macht des Kapitals. "Q ist eine Hommage
an die Geschichte, die von jenen geschrieben wurde, welche im Hintergrund stehen, eine Hommage an
die fortdauernde lebende Masse ohne Namen, die die gesamte Last der Ereignisse der Menschheit
trägt. Vor einiger Zeit haben wir dieser Masse den Namen Luther Blissett gegeben, was jedoch letztlich
völlig beliebig ist."

Luther Blissett ist auch nach Wien gekommen und hat sich in Form eines »Filmbuches« vom "20.
Februar 2002» manifestiert. «The Invisible College" verzichtet leider auf wohlorganisiertes Erzählen:
An diverse Photoserien aus dem alltäglichen (Reise-)Leben, die ihre Ästhetik ein bißchen den
Lomographie-Tapeten verdanken, schließt sich eine Textmontage aus Bearbeitungen von
Luther-Blissett-Texten aus dem Internet, die teils verfremdet, teils assoziativ fortgeführt und mit
Name-dropping aufgemotzt werden. Die Autoren bezeichnen das als Methode der Nachahmung, "um
die Wirklichkeit zu begeistern." Luther Blissett wird sich in seinem Grab wohl nicht umdrehen.

Doch: Luther Blissett ist tot - es lebe sein Nachfolger Wu Ming! Wu Ming heißt chinesisch »anonym« oder
»ohne Namen«, und seine Aktivitäten können unter »www.wumingfoundation.com« eingesehen
werden. »54« heißt der neue Roman des nun um Roberto Bui erweiterten Autorenkollektivs. Er spielt
im Jahr des Herrn 1954 und läßt neben anderen Cary Grant, Josip Broz »Tito« und den russischen
General Serov im Kalten Krieg aufeinandertreffen. Aber das ist eine andere tolle Geschichte.






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