1 November 2054, New York City.
Dieter Schuster war eben wieder in die Stadt zurückgekehrt. Noch nie im Leben hatte er ein so heruntergekommenes Drecksloch gesehen. Die meisten Wohnblocks waren effektiv Slums, deren Bewohner mit Spitznamen wie »Hängengebliebene« bezeichnet wurde. Diese Namen rühren noch aus den 20er Jahren her. Industrie und Handel waren größtenteils weg oder unsichtbar geworden.
Dieter Schuster betrachtete die ihn fremde Stadt durch die verspiegelten Scheiben eines Fahrdienstleisters, der ihn in einen Sicherheitswagen an seinen Zielort bringen würde. Plötzlich änderte sich die Landschaft, freundlichere Farben, getaucht in buntes Licht. Hier war noch ein Stück des alten NewYork, in dem bei Einsetzen der Abenddämmerung künstliches Licht alles erhellt. Allerdings war es das Vergnügungsviertel, Bars, Clubs, irgendwelche beweglichen »vierdimensionalen« Live-Kinos oder kleine »Institute«, in denen Leute auf gewaltigen Bildschirmen hochauflösende Bilder von Drohnen bestaunen konnten. Hier wurden traditionelle Storys aus Kinofilmen, Theaterstücken oder Romanen von Rollenspielern (Larpern) aufgeführt. Die Handlung wurde von sehr kleinen Drohnen, nicht größer als eine gewöhnliche Fliege, aufgezeichnet und dann liefe für die Zuschauer gestreamt. Viele Leute bezahlten viel Geld und warteten lange Zeit, bis sie auch endlich mal in so einem Stück mitmachen konnten. Natürlich war das alles theoretisch auch im Internet ansehbar. Die »Institute« lebten von den Teilnahmegebühren.
(Die amerikanische Kultur brachte es mit sich, dass es hier auch semi-erotische Nacktdarstellungen, zumeist mit professionelleren Darstellern, gab. Auf so etwas standen die Amis seit mehr als 50 Jahren.)
Bei einer dunkleren Gegend war ebenfalls Licht. Polizei-Drohnen verfolgten Verbrecher, während diese vermummt flohen. Dieter Schuster wunderte sich, »was passiert hier«?
»Gangs bekämpfen sich... Hier wird es wahrscheinlich einen Mord gegeben haben... Die Polizei ist ohnehin machtlos. Seit der Kongress per Verfassungszusatz die Drohenüberwachung zugelassen hat, wird es nur laut«. Es waren Schüsse zu hören. »Früher«, der ältere »Fahrer«, der Besitzer des selbstfahrenden Autos, erinnerte sich zurück, »hat die Saatslegislative von NewYork eine Überwachung durch Drohnen gesetzlich untersagt. Grund war die Anti-Diskriminierungspolitik. Die Drohnen überwachten nur die Problembezirke, in denen häufig arme und unterprivilegierte lebten«. Er hatte es zwar nicht explizit gesagt, aber es war klar, was er meinte. Die Sorge war, dass diese Maßnahmen so aussahen als würden sie sich speziell gegen Arme und Minderheiten richten.
Dieter Schuster fragte nicht weiter. Er war erfahren genug um zu wissen, wo man ein Gespräch stoppen musste. Grade mit Amerikanern konnte es sehr unfreundlich werden, wenn das Thema auf Politik kam. Er nickte nur. Dieter Schuster war 34 Jahre alt und die Stabilität der US-Verfassung beeindruckte ihn als Europäer immer wieder.
Wenige einsame Schatten bewegten sich durch die Straßen. Das Gefährt schien wieder ins Vergnügungsviertel zu fahren. Diesmal waren die Schilder nur anders, aufreizender. »All nude«, »Pretty's little secrets« und dergleichen mehr.
»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, teilte eine Elektronik Dieter Schuster mit. »Da wären wir«, der Fahrer grinste ihn an, streckte die Hand in Erwartung eines Trinkgelds aus. Dieter Schuster gab ihn 150 Dollar, das war nicht besonders viel, aber er schien zufrieden.
Hier sollte er sich mit Peck treffen. Ein China-Restaurant im zweiten Stock. Er folgte der Beschreibung und wurde dort von einer älteren, asiatischen Dame begrüßt, die ihn mit Akzent dazu aufforderte, den Mantel abzulegen und sich an einen Tisch zu setzen. »Ich werde erwartet, Mr Peck«, erklärte Dieter Schuster auf englisch. Die Damen deutete ihn einen Weg in einen von drei Seiten geschlossenen Eckraum und nahm seine Bestellung auf.
Peck war nicht gekommen.
Einige Zeit später erschien Peck. Immer noch im Mantel, Hemd, altmodische Aktentasche, die an das frühe 20. Jahrhundert denken lässt, Seidenhosen. Er nickte Dieter Schuster zu, »zunächst einmal entschuldige ich meine Verspätung. Es gab Verkehrsprobleme. Ich hoffe, Sie sehen mir das nach. Mein Beileid für Ihren Verlust«. Was Dieter Schuster nicht wusste, war, dass »Verkehrsprobleme« lange schon ein höflicher Code unter US-Bürgern war, hinter denen sich solche unschönen Dinge wie Straßenschlachten zwischen Gangs, Polizeieinsätze oder Verfolgsungsjagten verbargen. Die selbstfahrenden Autos konnten normalerweise Stau sehr gut vermeiden, aber gegen solche sozialen Probleme war die Technik natürlich machtlos.
»Danke«, sagte Dieter Schuster, »aber ich habe meinen Onkel Alfred Schuster kaum gekannt«. Peck nickte, während er seinen Mantel an einen bereitliegenden Hacken festmachte. »Haben Sie schon bestellt? Ich habe es unterwegs via App getan«, erklärte er, »Sie müssen die Frühlingsrollen probieren«.
Dieter Schuster nickte. »Wie war Ihre Reise?« Dieter Schuster versuchte Höflich zu bleiben: »Ich bin das erste Mal in meinen Leben in New York und... ich habe es mir anders vorgestellt, auch wegen der Movies und Videospiele«. Peck lächelte. »Die Filme repräsentieren lange schon nicht mehr die Realitäten der Großstadt. Sie sind fiktion«, erklärte er, »ich selbst wohne übrigens schon seit langer Zeit in Chicago. Dort ist das Leben etwas, nun, beschaulicher«. »Was ist nur aus dieser Stadt geworden?«, fragte sich Dieter Schuster laut.
Peck setzte sich, »schon im 20. Jahrhundert gab es hier einige Probleme mit Kriminalität. Das verging dann wieder. Alles hat eigentlich angefangen, als Corona damals ausgebrochen ist. Das Virus verwandelte eine ganze Generation von Menschen in 'digitale Nomaden'. Ich meine, heute ist ja schon die Re-Regionalisierung wieder aus der Mode gekommen... Aber die Generation damals ist aufs Land gezogen, weg aus den überteuerten und überfüllten Städten an den Küsten. Ich habe es als kleiner Junge noch erlebt.
Dank der Verfügbarkeit von Internet und Remote-Arbeit war es den Leuten möglich, sich den Arbeitsort selbst auszuwählen. Einige Staaten wie Kalifornien haben dagegen gekämpft, aber der Supreme Court hat entschieden, dass US-Staatsbürger nur an den Ort Steuern zahlen müssen, wo sie tatsächlich leben. Wenn jemand also aus New York wegzieht, dann nimmt er seine Zahlungskraft mit. Im Jahre 2020 hatte der Staat NewYork über 391,6 Milliarden Dollar Schulden. Nun brachen auch die Einnahmen weg.
Von nun an ging die Entwicklung ganz schnell. Wer es sich leisten konnten, der wanderte erst recht aus aufs Land, in den Süden oder verließt das die USA sogar ganz. Bei den einzelnen Standorten entbrannte ein gnadenloser Wettbewerb darum, attraktiv für die zahlungskräften Remote-Worker zu sein. Werbetexter, Programmierer, Anwälte... Kalifornien hat diesen Wettbewerb verloren. New York City dagegen wurde zwar abgeschlagen, aber kämpfte weiter. Insbesondere unter President West mit den 0%-Steuersätzen für Unterhaltungs-, Glücksspiel- und Filmindustrie. Man konzentrierte sich fast 20 Jahre, von 2030 bis heute, darauf, es dieser 'Elite' so angenehm wie möglich zu machen«.
Die asiatische Dame erschien und brachte das Essen. »...und vernachlässigte die Einheimischen«, fuhr Dieter Schuster fort. Peck lächelte, »nun, die können ja ebenfalls wegziehen«.
Die Armut mancher Einwohner der City war inzwischen sprichwörtlich und auch Gegenstand einiger Filme und Comedy-Serien geworden. Die »Hängengebliebenen« waren dabei jedoch Figuren, in Wahrheit kamen sie selten zu Wort.
Während des Essens sprach Peck weiter, »nun, ich bin Georg Peck und repräsentiere die Kanzlei 'Smith, Barth and Partner' und wir wurden beauftragt, das Erbe Ihres Onkels Alfred Schuster zu regeln. Wir Ihnen bekannt sein wird, war dieser im Immobiliengeschäft und bei der Stadtentwicklung in NewYork und anderen Städten beteiligt. Sie sind sein Alleinerbe, allerdings geht das Geld an eine Stiftung, von dort wird es regelmäßig ausbezahlt«. Dieter Schuster war sprachlos.
»Zudem sind Sie der Besitzer von einigen Ladenlokalen, etwa den Cosplayer-Treff Murmels Place oder den traditionellen Stripclub 'Kittys'«.
Dieter Schuster war schockiert. »Entschuldigen Sie«, wies ihn Peck hin, »es handelt sich um einen der letzten Gewerbe, die in dieser Stadt noch stabile Einnahmen haben. Viele Leute kommen in die Stadt, um genau das zu sehen«.
© Grafshop 17.08.2020
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